Hamburg. Der HSV-Sportchef ist seit einem Jahr im Amt. Im Abendblatt zieht er ein Zwischenfazit und spricht über die Folgen der Rucksackaffäre.
Vor dem verabredeten Gespräch wollte es Peter Knäbel ganz genau wissen. Das Wort „Bilanz“ war es, das den Sportchef des HSV irritierte. Er habe das Wort sogar gegoogelt, sagt Knäbel, als er um 7.45 Uhr zum Frühstück im Hotel Gastwerk erscheint. „Man zieht nach einem Jahr keine Bilanz“, sagt der Manager. „Ich würde es eher als einen Zwischenhalt bezeichnen. Man hält inne und schaut, was gewesen ist, wie es weiter geht.“
Also ein Zwischenhalt, keine Bilanz. Doch was so alles gewesen ist, das ist eben nicht so schnell erklärt. Nicht mal in einem zweistündigen Gespräch bei Quark, Müsli und Kaffee in aller Herrgottsfrühe. „Wenn ich ein Buch über mein erstes Jahr beim HSV schreiben würde, sagt Knäbel, „dann würde es ein sehr dickes Buch werden.“
An diesem Donnerstag vor genau einem Jahr hat Knäbel sein Amt als Direktor Profifußball beim HSV aufgenommen. Damals sagte er bei seinem ersten Interview zum Abendblatt: „Man braucht in einem funktionierenden Fußballclub ein Mindestmaß an Stabilität.“ Heute sagt er: „Wenn ich den HSV vom 1. Oktober 2014 zum 1. Oktober 2015 vergleiche, dann kann ich guten Gewissens ein positives Zwischenfazit ziehen.“ Ein Zwischenfazit, keine Bilanz. „Natürlich kann ich jetzt jede einzelne Etappe auf diesem Weg herausziehen und mich dann fragen, ob es besser gelaufen wäre.“ Der eine oder andere Transfer, ein Trainer-Intermezzo, sein Krisenmanagement. „Das hat jetzt aber keine Bedeutung mehr. Wichtig ist für mich nur noch, was unter dem Strich steht.“
HSV verliert gegen Schalke
Käbel sieht HSV besser aufgestellt
Doch was da unter dem Knäbel-Strich steht, ist dann eben doch nicht ganz so einfach. „Niemand, der nicht unmittelbar dabei war, kann sich vorstellen, wie emotional das letzte Jahr gewesen ist“, sagt der gebürtige Nordrhein-Westfale. Und irrt. Denn natürlich kann man sich das genau vorstellen. Den Abstiegskampf, die Zinnbauer-Entlassung, seinen umstrittenen Doppeljob, die Relegation, die Rettung, den Neuaufbau und dann noch die Rucksackaffäre um abhanden gekommene Club-Dokumente. Ganz schön viel für nur ein Jahr HSV. „Natürlich analysiere ich jeden unserer Schritte selbstkritisch. Aber wenn ich diesen einen dicken Strich unter alles ziehe“, sagt Knäbel, „dann komme ich zu dem Resultat, dass der HSV besser dasteht als vor einem Jahr. Nicht nur tabellarisch, sondern auch strukturell.“
Bewertet man die Arbeit eines Fußballmanagers nach einem Jahr, schaut man sich für gewöhnlich dessen Transferbilanz an. Wer wurde verkauft? Wer wurde gekauft? Und natürlich darf man auch das liebe Geld nicht vergessen. Unter Knäbel wurden in der Winter- und Sommertransferzeit zehn Spieler für rund 18 Millionen Euro geholt, 16 Profis verließen den Club für knapp zwölf Millionen Euro. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Die offensichtliche, die einfache. Die andere Seite der Medaille bleibt verdeckt.
Beim Rucksackgate rollen die Augen
Die Rucksackaffäre. Natürlich. Peter Knäbel rollt mit den Augen. „Dazu wurde längst genug gesagt und gemutmaßt“, sagt Knäbel, der allerdings selbst nur wenig zum Ende der Mutmaßungen beitrug. Nachdem die Polizei die Ermittlungsakte Anfang September an die Staatsanwaltschaft übergeben hatte, liegt sie nun wieder bei der Polizei. Es sollen noch weitere Zeugen vernommen, weitere Beweise gesammelt werden. Neue Nachrichten rund um das #Rucksackgate sind zwar rar geworden, aber ein aufschlussreiches Zwischenfazit ist noch nicht in Sicht.
Nur dieses: Knäbel hat sich geändert. Der 48-Jährige ist nachdenklicher geworden. Vorsichtiger. Und zurückhaltender. Wochenlang war er die arme Sau, die durch das Bundesliga- und Mediendorf getrieben wurde. Dabei soll längst feststehen, dass er tatsächlich beklaut wurde. Nur interessiert hat das eigentlich kaum jemanden. Deswegen lässt er lieber andere reden. Die „ehrliche Finderin“ zum Beispiel. Erst in der „Bild“, nun in der „Sport Bild“.
Knäbel war selbst schon Journalist
Knäbel weiß, wie das Mediengeschäft funktioniert. Er hat selbst mal als Journalist gearbeitet, als St.-Pauli-Profi unter einem Pseudonym für das „Sportmikrofon“ geschrieben. Doch dabei ging es um Fußball. Jetzt geht es um andere Dinge. Um Fotografen, die ihm mit Teleobjektiv vor dem Hotel auflauern, um ihn beim Termin mit zwei Beratern abzuschießen. „Knäbel beim Berater-Verhör“, ist dann am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen.
Der zweifache Familienvater sitzt auf seinem Eckplatz und schaut durch den Frühstückssaal des Gastwerks. Er hat seinen Platz bewusst gewählt. Geht er in ein Restaurant, setzt er sich nur noch dorthin, wo er entweder nicht gesehen werden kann, oder wo er alle anderen sieht. Es falle ihm schwer, Menschen zu vertrauen. Einerseits. Doch anderseits wisse er nun, auf wen er sich verlassen könne. Er habe seine Konsequenzen gezogen. Er geht kaum aus, bleibt lieber zu Hause, oder er macht das, was er ohnehin am liebsten macht: Fußball schauen. „Wenn irgendwo auf der Welt gespielt wird und der HSV davon profitieren könnte, dann jage ich da hin.“ Am Wochenende war Knäbel in Frankfurt. Erst die A-Jugend, Eintracht gegen Hoffenheim, dann die Profis: Frankfurt gegen Hertha, der kommende HSV-Gegner.
„Ich habe nichts zu verlieren“, sagt Knäbel. „Ich bin ja niemandem etwas schuldig. Mich interessiert nur, dass wir beim HSV einen guten und erfolgreichen Job machen. Das ist mir wichtig, nicht das ganze Tamtam drumherum.“ Er hätte auch gar keine Lust, in Hamburg über irgendwelche roten Teppiche zu laufen. „Das bin nicht ich“, sagt er. „Wenn der HSV einen Glanz- und-Glamour-Sportchef hätte haben wollen, dann wären die Verantwortlichen sicher nicht auf mich gekommen.“
Knäbel will seine Marathonzeit verbessern
Knäbel lässt sich Kaffee nachgießen. Immer wieder schaut er auf sein Handy, das im Fünf-Minuten-Rhythmus klingelt. In der kommenden Woche, der Länderspielwoche, will er sich ein paar Tage Urlaub in der Schweiz gönnen. Insgesamt habe er in seinem kompletten ersten HSV-Jahr nur acht bis zehn Tage frei machen können, sagt er und betont, dass er sich aber keinesfalls beschweren wolle. „Ich sehne mich nach dem Gefühl, dass alles so aufgestellt ist, dass ich mich zwischenzeitlich zurückziehen kann.“ Ob er tatsächlich mal das Handy ausmache? „So weit sind wir noch nicht …“
Ein Jahr HSV heißt auch ein Jahr Hamburg. „Ich bin in Hamburg leider noch nicht so angekommen, wie ich es mir erhofft hatte“, gibt Knäbel zu. Er fühle sich in der Öffentlichkeit beobachtet, spricht von Big Brother, immer und überall. Und auch für das Pflegen von alten Freundschaften und das Neuentdecken der Stadt habe er keine Zeit gehabt. Nur ein einziges Mal habe er sich mit einem alten Kumpel zum Mittag getroffen. Ein Bierchen mit seinem früheren St.-Pauli-Kollegen Klaus Ottens habe er bis heute nicht getrunken.
Immerhin schafft er seine Joggingrunden. „Ich muss was für mich tun“, sagt Knäbel. Also läuft er. Doch einfach nur joggen, das reicht nicht. 2012 ist Knäbel den Hamburg-Marathon gelaufen. „Da lernt man Demut.“ Drei Stunden und 47 Minuten war seine Zeit. Die gilt es nun zu schlagen.
Besser werden, das ist das Ziel. Das einzige Ziel. Auch für den HSV „Wenn wir das geschafft haben“, sagt Knäbel, „dann können wir ein positives Zwischenfazit ziehen.“
Ein Zwischenfazit. Keine Bilanz.