Hamburg. Nach Beisters Abgang ist Dennis Diekmeier der dienstälteste HSV-Profi. Aber wie wichtig ist Vereinstreue überhaupt noch?

Ob er sich alt fühle? „Überhaupt nicht“, antwortet Dennis Diekmeier, der es spätestens am Mittwoch sogar schwarz auf weiß hat, dass er nicht nur jung, sondern vor allem auch fit ist. Dann sollen die Ergebnisse des Laktattests vorliegen, den die HSV-Profis am Montag vor dem offiziellen Trainingsauftakt in Eidelstedt absolvieren mussten. Runden laufen, Geschwindigkeit erhöhen, Runden laufen. Und zwischendurch immer wieder Blut aus dem Ohrläppchen abnehmen lassen. „War ganz schön blutig“, scherzt Diekmeier, der das obligatorische Prä-Saison-Prozedere bereits zum sechsten Mal in Hamburg hinter sich brachte.

Mit 26 Jahren ist Dennis Diekmeier tatsächlich alles andere als alt, dienstältester HSV-Profi ist er in dieser Spielzeit aber dennoch. Schuld haben Marcell Jansen und Maximilian Beister, die Hamburg nach sieben beziehungsweise sogar neun Jahren in diesem Sommer den Rücken kehrten. Genau wie Jaroslav Drobny und Gojko Kacar, dessen Zukunft beim HSV noch immer unsicher ist, steht Diekmeier bereits seit 2010 unter Vertrag. „Das ist schon eine verdammt lange Zeit, aber hätte man mich nicht darauf angesprochen, dann hätte ich auch nicht gewusst, dass niemand länger als ich beim HSV ist“, sagt der Rechtsverteidiger, der sich auch nicht wirklich als Identifikationsfigur und schon gar nicht als Publikumsliebling sieht: „Solche Dinge sind mir eigentlich nicht wichtig.“

„Müssen Spieler wie Dennis umso mehr schätzen“

Doch wie wichtig ist Identifikation überhaupt noch im heutigen Geschäft Profifußball, wo es zur Normalität zu gehören scheint, heute das Vereinswappen vor der Kurve zu küssen und morgen einen neuen Vertrag beim Lokalrivalen zu unterschreiben? „Natürlich ist Identifikation ein hohes Gut. Aber wenn wir ehrlich sind, dann wird es in diesen Zeiten immer schwieriger, echte Identifikationsfiguren an den Club zu binden“, gibt HSV-Sportchef Peter Knäbel ehrlich zu. „Umso mehr müssen wir wertschätzen, solche Spieler wie Dennis unter Vertrag zu haben. Er ist ein vorbildlicher Kämpfer, der nie aufgibt, auch nicht in schweren Zeiten. So etwas spürt das Publikum.“

Diekmeier wird von den Fans geschätzt, geliebt wird er nicht. „Dennis ist ein ganz feiner Kerl, aber er ist eben nicht eine von diesen Identifikationsfiguren, nach denen sich die Fans sehnen“, sagt Supporters-Chef Tim-Oliver Horn. Der Agenturchef ist seit seiner Kindheit überzeugter HSV-Anhänger, seit 1998 ist er Mitglied. Als Kind hat sich Horn vor jeder Saison gefragt, von welchem HSV-Star er am liebsten ein Trikot mit Namenszug auf dem Rücken hätte. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. „Als HSV-Fan wurde man durch die letzten Jahre ein wenig desillusioniert. Es gibt leider immer weniger Profis mit Identifikationspotenzial. Natürlich weiß ich, dass dies dem Geschäft geschuldet ist. Und trotzdem vermisst man als Anhänger Spieler, mit denen man sich identifizieren kann.“

Matz ab zum Saisonende 2014/15

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    Wahrnehmung der Fans hat sich gewandelt

    Für Horns subjektive Wahrnehmung gibt es einen wissenschaftlichen Fachbegriff: Kompensationsphänomen. Dies hat jedenfalls der Fanforscher Jonas Gabler ausgemacht. „Fans haben mittlerweile eine große Akzeptanz dafür, dass jeden Sommer ganze Mannschaften ausgetauscht werden“, sagt der Soziologe im Gespräch mit dem Abendblatt. „Für Fußballfans ist Identifikation nach wie vor wichtig, aber sie wird anders als früher ausgelebt. Es zählt nicht mehr der eine Star. Die eigenen Farben, die Geschichte und auch die eigene Fantradition gewinnen an Bedeutung“, sagt Gabler, der sich durch den HSV bestätigt fühlt: „Besonders in Hamburg wird deutlich, dass nicht mehr einzelne Publikumslieblinge verehrt werden, sondern der Verein als großes Ganzes gesehen wird. Es zählt nicht der einzelne Star, sondern nur der HSV – wie es der Leitspruch des Clubs treffend beschreibt.“

    Dabei kann man fehlende Vereinstreue selbstverständlich nicht nur beim HSV beobachten. Ein kurzer Blick zum Lokalrivalen reicht aus, um zu erkennen, dass es sich um eine generelle Entwicklung im Profifußball handelt. So hat der FC St. Pauli sogar nur noch fünf Spieler unter Vertrag, die länger als zwei Jahre im Club sind (das Abendblatt berichtete). Der HSV hat mit Diekmeier, Kacar, Drobny, René Adler, Petr Jiracek, Artjoms Rudnevs und Ivo Ilicevic immerhin sieben Profis, die sogar mindestens seit drei Jahren unter Vertrag stehen. „Natürlich wünschen sich Fußballanhänger, dass ein Spieler lange für ihren Club spielt. Aber die Vereinszugehörigkeit ist nicht das wichtigste Kriterium einer Identifikationsfigur“, sagt Supporters-Chef Horn.

    Beister hatte einen hohen Identifikationswert

    Doch was macht einen Spieler dann zum Publikumsliebling? „Das ist eine schwere Frage, die man pauschal nicht beantworten kann“, sagt Fanforscher Gabler. Beister, der gerade nach Mainz gewechselt ist, hätte beispielsweise einen hohen Identifikationswert gehabt, weil er aus der eigenen Jugend kam, alle Nachwuchsmannschaften des HSV durchlaufen und sich von unten nach oben gekämpft hat. „Und ganz nebenbei hat er in seiner besten Phase dann auch noch Tore geschossen“, sagt Gabler. „So einen mögen die Fans.“

    Doch Beister ist weg. Genauso wie der ewige Kämpfer Heiko Westermann, Rafael van der Vaart, der die Anhänger zumindest in der Theorie an die „guten, alten Zeiten“ erinnerte, und auch Marcell Jansen, der nach sieben Jahren beim HSV noch einmal offiziell verabschiedet werden soll. „Einen klassischen Publikumsliebling kann ich beim HSV derzeit eigentlich nicht ausmachen“, sagt Supporters-Chef Horn, der persönlich den schrulligen Torhüter Drobny mag und Lewis Holtby zumindest ein gewisses Publikumslieblingspotenzial einräumt.

    „Er ist ja noch nicht so lange beim HSV. Aber wenn man gesehen hat, wie er im Relegationsrückspiel in Karlsruhe in der Schlussphase die Linie rauf- und runtergelaufen ist, dann könnte er sich zu einer Identifikationsfigur entwickeln.“ Und Diekmeier? „Vielleicht schießt er in seiner sechsten HSV-Saison ja mal sein erstes Tor“, so Horn. „Das wäre ein guter Anfang.“