Der HSV-Retter empfindet Demut und will die Saisonplanung ganz nüchtern angehen. Labbadia spricht von einer gewachsenen Verbindung.
Nur kurz nach dem Abpfiff im Wildparkstadion. Dietmar Beiersdorfer rang bei Sky-Moderator Patrick Wasserziehr um Worte für die an Dramatik kaum zu überbietenden 120 Minuten des Relegationsrückspiels zwischen dem HSV und dem KSC. Da stürmte plötzlich von hinten ein Mann im dunklen Anzug heran, warf sich vor laufender Kamera mit aller Kraft und lautem Gebrüll zwischen den HSV-Chef und den Reporter, schrie: „Jaaaa!“ Genau in diesem Moment schien endlich der ganze Druck aus Bruno Labbadias Körper entweichen zu können.
Eine Wahnsinnsszene, die man von einem Bundesligatrainer so noch nie gesehen hatte. Am Tag danach musste der 49-Jährige selbst darüber schmunzeln. „Ich sah sie stehen und hatte einfach das Gefühl: Da muss ich jetzt dazwischengrätschen. Ich wusste, was der Didi diese Saison mitgemacht hat.“
Als morgens um halb sechs dann Labbadia und Beiersdorfer mit ihren Frauen bei Erika’s Eck in der Sternschanze saßen und den Klassenerhalt bei Roastbeef und Cordon Bleu rustikal begossen (siehe Bericht Seite 6), hatte sich ein Kreis geschlossen. Am 26. April 2010 war Labbadia nach einem 1:5 in Hoffenheim als HSV-Trainer gefeuert worden. Nur neun Monate, nachdem ihn Beiersdorfer – der selbst zu diesem Zeitpunkt auch nicht mehr im Amt war – verpflichtet hatte. „Wir flogen damals von Mannheim zurück nach Hamburg“, sprach Labbadia jetzt noch einmal diesen für ihn so bitteren Abschied an. „Dieses Mal sind wir wieder von Mannheim geflogen.“ Mit einem unvergleichlichen Glücksgefühl an Bord: „Diesen Tag wird niemand vergessen.“
Titel für die größte Rettungsmission
Es gab so einige Lebensretter des HSV in den vergangenen Jahren, Thorsten Fink 2012 beispielsweise. Unvergessen sind auch der Siegeszug von Huub Stevens 2007 oder die Zittersaison mit Frank Pagelsdorf 1997/98. Gäbe es aber einen Titel für die aussichtsloseste, aber erfolgreich beendete Rettungsmission eines Trainers in Hamburg, Labbadia dürfte kaum jemals noch vom Thron zu stoßen sein.
„Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, in meinem Leben nie einen Verein zehn Spieltage vor Saisonende zu übernehmen“, erinnerte sich der gebürtige Darmstädter am Dienstag an über den Haufen geworfene Grundsätze. Sechs Spiele waren zu spielen, als Labbadia den HSV am 15. April als Tabellen-18. übernahm, mit vier Punkten Rückstand auf Rang 15. Ein Himmelfahrtskommando. „Ich war nicht blauäugig und wusste, dass in drei Wochen alles vorbei sein kann. Aber ich hatte keine Angst. Manchmal musst du ein Risiko eingehen, um etwas ernten zu können. Diese Intensität, die du als Trainer erlebst, gibt es nur sehr selten in anderen Bereichen.“
Wer Labbadia im Klassenkampf begleiten durfte, bekam eine Ahnung davon, warum und wie er die scheintote Mannschaft zum Laufen brachte. Ein guter Fußballlehrer war er schon in seiner ersten HSV-Zeit, aber die Erfahrungen der vergangenen Jahre scheinen seine Persönlichkeit und seine Arbeitsweise positiv geprägt zu haben. Einen so authentischen Trainer wie Labbadia gab es lange nicht mehr in Hamburg: einen, der seine Gefühle nicht unterdrückte, sondern im Gegenteil als Vorbild für alle im Verein als leidenschaftlicher Kämpfer voranging, als Symbol für den Widerstand. So gewinnt man Autorität, so vermittelt man erfolgreich den Glauben an die Wende.
Emotionale Ansprache schon vor dem Spiel
Schon vor dem Anpfiff beim KSC, in seiner Ansprache ans Team, bedankte sich Labbadia für die Zusammenarbeit in den vergangenen sechs Wochen: „Ich bin stolz, wie hingebungsvoll und mit welcher Power ihr auf das gemeinsame Ziel hingearbeitet habt. Ihr habt alles mitgetragen, eine unglaubliche Kraft entwickelt.“ Alles, was man erreicht habe, ginge nur über Emotionen: „Fußball ist nicht immer nur Taktik, im Fußball geht es am Ende um ein Team, um Geschlossenheit. Das war der Schlüssel für die Mannschaft, in diesem Ambiente haben sich die Spieler entwickelt.“ Wie ein aussortierter Gojko Kacar, der es allen zeigen konnte. Oder Nicolai Müller, der sich wichtig fühlte und um sein Comeback kämpfte, weil er vielleicht noch gebraucht werden würde.
In einer so labilen Mannschaft den Zusammenhalt gefördert zu haben, der stark genug war, sich auch nach Rückschlägen noch zu wehren, ist vielleicht das größte Verdienst Labbadias. Kurzausflüge nach Malente, wo man unter sich sein und bei einer gemeinsamen Bootstour auch mal entspannen konnte, entpuppten sich als strategisch goldrichtig. Zehn von 18 Punkten in der regulären Spielzeit hätte dem HSV nach dem 0:2 gegen Wolfsburg wohl niemand zugetraut.
„Mir bedeutet das alles als Fußballromantiker sehr viel“, sagte Labbadia, „natürlich haben wir alle gern ein gutes Konto, aber Fußball ist mehr als Geld, das haben die Spieler unter Beweis gestellt.“
So feiern die HSV-Fans den Klassenerhalt
„Froh, dass ich wieder lebe“
Und jetzt? „Diese sechs Wochen fühlen sich an wie eine ganze Saison“, gab Labbadia am Dienstag freimütig zu, wie grenzwertig auch für ihn die Belastungen waren. In der tiefen Zufriedenheit über die Rettung des HSV lag auch Erleichterung, das Ende des von ihm viel zitierten Tunnels erreicht zu haben: „Da bin ich jetzt raus. Ich bin froh, dass ich wieder lebe. Ich habe das Glück, dass mich meine Familie in solchen Situationen kennt und komplett in Ruhe gelassen hat. Aber jetzt wird gelebt.“
Höchste Zeit auch, sich mal wieder bei den Kindern blicken zu lassen. Sie hätten dem erneuten HSV-Engagement des Vaters sehr ablehnend gegenübergestanden: „Sie haben mich gefragt, ob ich sie noch alle habe.“ Der unschöne Abgang 2010 war noch zu gut bei der Familie in Erinnerung, schließlich ging der Sohn damals in Hamburg zur Schule, die Tochter studierte. „Aber meine Frau wusste, dass ich das machen muss und hat mich unterstützt. Jetzt, denke ich mal, werden meine Kinder auch wieder mit mir reden.“
Labbadia spricht von Demut
Reden wird Labbadia auch beim HSV in den nächsten Tagen noch viel vor einem Kurzurlaub. „Schon verrückt, welche Bindung in dieser kurzen Zeit entstanden ist, aber trotzdem müssen wir Veränderungen im Kader vornehmen.“ Ganz pragmatisch sei er in dieser Beziehung. Sich von Emotionen leiten zu lassen, wäre hier ausnahmsweise auch falsch. „Wir sollten ruhig bleiben und versuchen, konzentriert zu arbeiten, den Mund nicht zu voll zu nehmen. Dankbarkeit und Demut, das sind zwei Begriffe, die Sie gern mit aufnehmen können.“
Dass seine Mission vorsieht, den HSV wieder nach oben zu führen, ist aber logisch: „Dieses Mitleiden der Fans und aller HSV-Mitarbeiter kann man auch positiv sehen. Der ganze Verein und die Stadt haben eine Kraft entwickelt, die mich sehr zuversichtlich stimmt, dass wir etwas bewegen können. Und was ich besonders mitnehme aus dieser Zeit: Man darf nie aufgeben.“