Hamburg . Sportredakteur Björn Jensen erlebte den dramatischen Klassenerhalt des HSV im Gästeblock. Er ist von einer höheren Macht überzeugt.

Menschen, die dem Tod nahe waren und ihm doch noch knapp entgingen, berichten danach oft davon, dass in den Minuten des Überlebenskampfs die wichtigsten Stationen ihres Seins wie ein Film an ihnen vorbeizogen. Ich möchte, das sei ausdrücklich betont, an dieser Stelle den Tod eines Menschen nicht mit dem Abstieg eines geliebten Vereins vergleichen. Dafür ist der Fußball wahrlich nicht wichtig genug, auch wenn er natürlich mehr ist als nur ein Spiel.

Aber als der Karlsruher Sportclub am Montagabend in der 78. Minute des Relegationsrückspiels in Führung ging, war das wie ein Startschuss für das Kopfkino. Viele Wochen hatte man ja Zeit gehabt, sich auf das Szenario des ersten Abstiegs der Vereinsgeschichte einzurichten, zu aussichtslos schien die Rettung. Und ich hatte das ganze Drama in der vorangegangenen Saison beim Relegationsrückspiel in Fürth schon einmal mit Happy End live miterlitten. Doch in dem Moment, in dem der Abstieg real zu werden drohte, dachte ich an die Erlebnisse, die mir mein Verein in den rund 30 Jahren, die ich ihn als heute 38-Jähriger als Fan begleiten durfte, beschert hat.

Reihenweise Flashbacks

Ich dachte an meine erste Auswärtsfahrt am 11. April 1992, ein 1:1 bei Wattenscheid 09. An lange Bustouren nach Glasgow oder Kaiserslautern, an Sonderzugreisen nach Stuttgart oder München und die vielen harten Rückfahrten nach bitteren Pleiten. Aber ich dachte auch an den 2:1-Sieg gegen Bayern München im Februar 1996 mit den späten Toren von André Breitenreiter und Uwe Jähnig, an den Sieg gegen Werder Bremen im März 1998 mit Anthony Yeboahs 2:1 in der Nachspielzeit. An den Mai 1996, als wir im Frankfurter Waldstadion durch einen 4:1-Sieg gegen die Eintracht noch in den Uefa-Cup einzogen und der ganze Block Pogo tanzte. An Piotr Trochows­kis Tor zum 3:2 ebenfalls in Frankfurt, das uns im Mai 2009 in letzter Minute in die Europa League brachte.

So feiern die HSV-Fans den Klassenerhalt

HSV-Fans feiern in Hamburg in der Imtech Arena beim Public Viewing vor einer Videoleinwand den Ausgleichstreffer des HSV im Relegationsspiel
HSV-Fans feiern in Hamburg in der Imtech Arena beim Public Viewing vor einer Videoleinwand den Ausgleichstreffer des HSV im Relegationsspiel © dpa | Christian Charisius
Maskottchen Dino Hermann war nicht mehr zu halten
Maskottchen Dino Hermann war nicht mehr zu halten © WITTERS | TimGroothuis
Lotto King Karl umarmt den Dino
Lotto King Karl umarmt den Dino © WITTERS | TimGroothuis
Die Fans rasten aus!
Die Fans rasten aus! © WITTERS | TimGroothuis
13.000 Fans in Extase
13.000 Fans in Extase © WITTERS | TimGroothuis
Nach dem Schlusspfiff kannte die Freude keine Grenzen
Nach dem Schlusspfiff kannte die Freude keine Grenzen © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Großer Jubel!
Großer Jubel! © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Die Freude war kaum kanalisierbar
Die Freude war kaum kanalisierbar © Roland Magunia | Roland Magunia
Als das entscheidende Tor fiel, gab es im Restaurant
Als das entscheidende Tor fiel, gab es im Restaurant "Gurke" in Harvestehude kein Halten: HSV-Fans rissen die Arme hoch und lagen sich jubelnd in den Armen und sangen nach dem Schlusspfiff lautstark "Hamburch meine Perle" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Jubelbilder aus der
Jubelbilder aus der "Gurke" © Jörg Riefenstahl
Vorher war das Spiel in der Imtech-Arena kaum zu ertragen
Vorher war das Spiel in der Imtech-Arena kaum zu ertragen © dpa | Christian Charisius
Die Angst in den Gesichtern
Die Angst in den Gesichtern © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Wer glaubte noch an die Rettung?
Wer glaubte noch an die Rettung? © dpa | Christian Charisius
Die Fans des HSV standen zu Beginn voll hinter ihrem Team
Die Fans des HSV standen zu Beginn voll hinter ihrem Team © WITTERS | TimGroothuis
Die Karlsruher Fans zeigen vor dem Spiel eine Choregraphie
Die Karlsruher Fans zeigen vor dem Spiel eine Choregraphie © dpa | Daniel Naupold
Die Hamburger Fans brennen vor dem Spiel Pyrotechnik ab
Die Hamburger Fans brennen vor dem Spiel Pyrotechnik ab © dpa | Daniel Naupold
Auf der Tribüne: Josef
Auf der Tribüne: Josef "Joe" Zinnbauer und Oliver Kreuzer © WITTERS | ThorstenWagner
Tausende HSV-Fans waren auch beim Public-Viewing in der Imtech-Arena zugegen
Tausende HSV-Fans waren auch beim Public-Viewing in der Imtech-Arena zugegen © dpa | Christian Charisius
Public Viewing im Hamburger Volksparkstadion am Montag - die Uhr läuft noch
Public Viewing im Hamburger Volksparkstadion am Montag - die Uhr läuft noch © Roland Magunia | Roland Magunia
Die HSV-Fans machten in Karlsruhe schon vor dem Anpfiff ordentlich Alarm
Die HSV-Fans machten in Karlsruhe schon vor dem Anpfiff ordentlich Alarm © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Die Unterstützung ist schon die ganze Saison über einmalig
Die Unterstützung ist schon die ganze Saison über einmalig © Bongarts/Getty Images | Martin Rose
Trainer Bruno Labbadia guckt vor dem Anpfiff ein wenig skeptisch
Trainer Bruno Labbadia guckt vor dem Anpfiff ein wenig skeptisch © WITTERS | ValeriaWitters
Gojko Kacar konzentriert sich vor dem Spiel
Gojko Kacar konzentriert sich vor dem Spiel © WITTERS | ValeriaWitters
Artjoms Rudnevs, Heiko Westermann und Torwart Jaroslav Drobny vor der Partie
Artjoms Rudnevs, Heiko Westermann und Torwart Jaroslav Drobny vor der Partie © WITTERS | ValeriaWitters
Mohamed Gouaida, Ronny Marcos und Maximilian Beister bei der Platzbegehung
Mohamed Gouaida, Ronny Marcos und Maximilian Beister bei der Platzbegehung © WITTERS | ThorstenWagner
Pierre-Michel Lasogga kann auch spielen
Pierre-Michel Lasogga kann auch spielen © WITTERS | ValeriaWitters
KSC-Trainer Markus Kauczinski vor dem Spiel
KSC-Trainer Markus Kauczinski vor dem Spiel © WITTERS | ValeriaWitters
Torwart Jaroslav Drobny ist zur Unterstützung dabei
Torwart Jaroslav Drobny ist zur Unterstützung dabei © WITTERS | ValeriaWitters
Rafael van der Vaart (l.) und Peter Knaebel (Direktor Profifussball) gehen den Rasen ab
Rafael van der Vaart (l.) und Peter Knaebel (Direktor Profifussball) gehen den Rasen ab © WITTERS | ValeriaWitters
Rafael van der Vaart wirkt vor dem Spiel gelöst
Rafael van der Vaart wirkt vor dem Spiel gelöst © WITTERS | ValeriaWitters
Maximilian Beister ist guter Dinge
Maximilian Beister ist guter Dinge © WITTERS | ValeriaWitters
Poliziautos stehen vor dem Wildparkstadion
Poliziautos stehen vor dem Wildparkstadion © dpa | Daniel Naupold
90 Minuten vor dem Spiel ist der Schriftzug
90 Minuten vor dem Spiel ist der Schriftzug "Relegation 2015" am Spielertunnel im Wildparkstadion zu sehen © dpa | Daniel Naupold
Polizisten gehen vor dem Spiel durch den Eingang zum Wildparkstadion
Polizisten gehen vor dem Spiel durch den Eingang zum Wildparkstadion © dpa | Daniel Naupold
Die Ruhe vor dem Sturm
Die Ruhe vor dem Sturm © dpa | Daniel Naupold
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Kurz: Ich dachte an die Momente, in denen wir kurz vor Spielende verloren Geglaubtes gewonnen hatten, als sich Marcelo Díaz in der Nachspielzeit zum Freistoß bereit machte. Es liegt etwas Erhabenes in solchen Momenten, in denen die Gesichter der Umstehenden all das widerspiegeln, was man selber fühlt: Anspannung, Hoffnung, Angst. Und als der Ball im linken Torwinkel im Netz zappelte, im Fanblock alle übereinanderpurzelten und aus ängstlichen Gesichtern vom Glück und der totalen Euphorie grotesk verzerrte Visagen wurden, da war sie in mir, diese Gewissheit: Dass eine höhere Macht möchte, dass es einen Verein gibt, der niemals aus der Bundesliga absteigt.

Der Siegtreffer war nur logisch

Das 2:1 durch Nicolai Müller in der Verlängerung war zwar wie eine zweite Erlösung, aber nicht mehr so ekstatisch, weil ich so sicher war, dass es fallen würde. In der Verlängerung dachte ich an meinen Freund Joachim Eybe, der mich als Unke beschimpft hatte, als ich nach dem 0:2 gegen Wolfsburg vom Abstieg überzeugt war. Dass er Recht behalten hat mit seinem Credo, niemals aufzugeben, werde ich mir zu Herzen nehmen.

Sportredakteur Björn Jensen, 38, ist seit 1990 Dauerkarteninhaber und seit 1995 Mitglied. Er schreibt deshalb nur in Ausnahmefällen über seinen HSV
Sportredakteur Björn Jensen, 38, ist seit 1990 Dauerkarteninhaber und seit 1995 Mitglied. Er schreibt deshalb nur in Ausnahmefällen über seinen HSV © HA / A.Laible | Andreas Laible

Auf der Rückfahrt, irgendwo zwischen Kassel und Göttingen, war da ein weiteres Gefühl: Das des Mitleids für die Menschen, die sich für Sport nicht begeistern und deshalb die Emotionen, die er freisetzt, nicht erleben können. Meine beiden Kinder erstmals im Arm zu halten und die Eheschließung mit meiner Frau sind die einzigen Dinge, die mich persönlich tiefer bewegt haben als der Abend im Wildparkstadion. Dafür sage ich, trotz einer erschütternden Saison: danke, mein HSV!