Deutschlands Torwart hat erst neun Länderspiele und doch schon ganz viel Routine. Das Abendblatt traf ihn vor seinem größten Spiel.
Kapstadt. Manuel Neuer hat in vier WM-Spielen nur zwei Gegentreffer hinnehmen müssen. Der 24 Jahre alte Nationaltorwart vom FC Schalke 04 soll mit erst neun Länderspielen auch gegen Argentinien an diesem Sonnabend zum Rückhalt der DFB-Auswahl werden.
Abendblatt: Herr Neuer, wissen Sie noch, wo Sie 2006 während des WM-Viertelfinales gegen Argentinien waren?
Manuel Neuer: Wie bei vielen WM-Spielen stand ich in der Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn beim Public Viewing. Das alte Schalker Stadion war mit bestimmt 30 000 Fans randvoll. Wo früher Rasen wuchs, war nur Schotter.
Erinnern Sie sich auch noch an Ihren emotionalen Zustand?
Na klar. Mit meinen Freunden habe ich mich tierisch auf dieses Spiel gefreut und mich vor allem auf das Torwartspiel konzentriert, weil Jens Lehmann im Mittelpunkt stand. Jens war ja früher mein Vorbild, weil er auf Schalke gespielt und das moderne Torwartspiel verkörpert hat. Schon in der Jugend habe ich immer versucht, mich an ihm zu orientieren. Für einen Fan war es ein sensationelles Spiel.
Müssen Sie sich noch kneifen, dass Sie jetzt im Tor stehen werden?
Ganz ehrlich? Darüber mache ich mir keine großen Gedanken. Obwohl ich natürlich mitbekomme, was in Deutschland los ist, auch durch Erzählungen meiner Freunde. Und ich weiß, was in den Fancamps abgeht, weil dort auch einige meiner Leute sind ...
... im DFB-Camp in Pretoria?
Nee, die sind schon nach Kapstadt geflogen und jetzt mit dem Wohnmobil unterwegs. Interessant, welche Geschichten man hört. Die sind zufällig vom ZDF befragt worden und werden jetzt auch die nächsten Tage begleitet. Lustig, oder?
Sie stehen doch vor dem größten Spiel Ihrer Karriere, oder?
Mit Sicherheit. Mit Schalke stand ich mal in der Champions League im Viertelfinale gegen Barcelona, da sind wir ausgeschieden. Zweimal 0:1 verloren.
Dafür wirken Sie aber nicht gerade gestresst.
Keine Sorge, wir haben schon die richtigen Leute, die uns einstellen. Eine gehörige Portion Anspannung muss selbstverständlich vorhanden sein, man darf nicht übereifrig oder übermotiviert rangehen. Es wäre der falsche Weg, würde man versuchen, alles selbst zu machen oder den Trainer auf dem Platz zu geben. Was ich umsetzen will, ist, der Mannschaft Ruhe zu vermitteln. Ich möchte ein großer Rückhalt sein und das Vertrauen, das ich bekommen habe, auch wieder zurückzahlen.
Wie läuft die Vorbereitung auf ein Spiel für einen Torwart?
Die erste detaillierte Besprechung hatten wir vor dem Abflug nach Kapstadt. Dort wurde uns mitgeteilt, worauf wir achten müssen. In meinem Fall: Welche Schützen kommen bei Standards infrage, wie sind die Bewegungsabläufe der Argentinier, welche Auffälligkeiten gibt es? Das versuche ich mir einzuprägen.
Wird es wieder einen Zettel für das Elfmeterschießen geben wie 2006?
Das steht noch nicht fest. Stand heute; will ich mich auch nicht darauf konzentrieren, weil wir die Partie möglichst in den 90 Minuten für uns entscheiden wollen. Mir würde dann schon rechtzeitig mitgeteilt, worauf ich zu achten habe. Außerdem müsste man sich auch ein bisschen Spontaneität in so ein Elfmeterschießen mitnehmen.
Inwiefern?
Natürlich haben wir Informationen über die möglichen Schützen und ihre Lieblingsecken gesammelt. Aber abgesehen davon, dass womöglich durch Verletzungen oder Auswechslungen gar nicht mehr alle Kandidaten auf dem Platz stehen, muss man versuchen, genau zu registrieren, ob der Schütze sich vielleicht den Ball anders hinlegt oder einen anderen Anlauf wählt. Das könnten Indizien dafür sein, dass er etwas an seinem Elfmeter verändert. Du brauchst einen kühlen Kopf und musst total konzentriert sein.
Gibt Ihnen so einen Duell den besonderen Kick oder empfinden Sie diese Situation als brutal?
Als Torwart musst du immer positiv in ein Elfmeterschießen gehen, du hast ja nichts zu verlieren. Vor allem aber darf man keine Schwäche zeigen. Im Gegenteil: Man muss auch ein bisschen arrogant rüberkommen und dem Schützen signalisieren: Heute hast du keine Chance!
Wie sieht so eine Arroganz aus?
Es geht darum, dem Gegenüber zu zeigen, dass man der Überlegene ist. Wenn das gelingt, was natürlich gegen diese Ansammlung von argentinischen Superstars nicht so einfach ist, hat man schon ein bisschen was gewonnen.
Im Vorfeld wurde die Partie durch Aussagen von Bastian Schweinsteiger angeheizt. Ist auch für Sie das Spiel angesichts der Vorfälle vor vier Jahren negativ aufgeladen?
Ich war erstens 2006 nicht dabei und habe ehrlich gesagt auch nichts von den Auseinandersetzungen mitbekommen. Wir lagen uns da gerade in den Armen. Die Spieler auf dem Platz im Berliner Olympiastadion lagen sich dann bekanntlich auch in den Armen, aber auf eine andere Art und Weise ... (lacht). Aber natürlich habe ich registriert, dass diese Sachen bei einigen noch im Kopf sind. Das ist vergleichbar mit einer Situation, als mir nach einem Spiel gegen Dortmund vorgeworfen wurde, dass ich mit dem Ellenbogen geschlagen haben soll. So etwas bringt für das nächste Spiel Brisanz mit.
Liegt der Druck bei den anderen?
Das will ich so nicht bestätigen, schließlich wollen beide Mannschaften gewinnen. Was die individuelle Klasse der Spieler betrifft, ist Argentinien sicher im Vorteil. Aber vielleicht sind wir wie gegen England als Team besser.
Nennen Sie uns doch bitte Gründe, warum wir trotz der Offensivmacht Argentiniens Vertrauen in die deutsche Defensive haben sollen.
Ganz einfach: In den ersten vier WM-Spielen haben wir zweimal zu null gespielt und nur zwei Tore kassiert. Man kann also sagen, dass wir gut verteidigt haben, und zwar nicht nur die Abwehr und das defensive Mittelfeld, ich würde da die ganze Mannschaft einbeziehen. Auch in kritischen Situationen haben wir gut zusammengehalten und harmoniert. Dennoch gebe ich Ihnen recht: Es wird kein einfaches Spiel.
Gerade Sie als Torwart stehen gegen Messi, Higuain oder Tevez im Blickpunkt. Fühlt man sich als Torwart einsam?
Vielleicht als Einzelkämpfer, aber trotzdem als Teammitglied. Ich weiß, dass ich für das Team wichtig bin. Die Spieler wissen aber auch, dass sie mich immer anspielen können, von daher fühle ich mich nicht einsam, weil ich viele Ballkontakte während einer Partie habe.
Jürgen Klinsmann befürchtet Probleme bei der jungen deutschen Mannschaft im Falle eines Rückstands.
Das wäre überhaupt kein Problem für mich. Ich weiß, dass das dazugehört und kann damit gut weiterspielen. Ich erinnere mich noch sehr gut an unseren Theorieunterricht bei Schalke, als mir Helmut Schulte eingeprägt hat: Ein Spiel fängt für den Torwart auch nach Gegentoren immer wieder bei null an. Diesen Spruch halte ich mir immer vor Augen.
Sie hätten auch ein guter Zweitliga-Feldspieler werden können ...
... Moment, mir wurde nur Drittliga-Niveau attestiert!
Okay, also Drittliga-Feldspieler. Haben Sie es jemals bereut, im Tor zu stehen?
Die Frage stellte sich nicht. Als ich mit vier Jahren zu Schalke kam, wurde ich ins Tor gesteckt. Der Neue muss ja oft ins Tor. So war das damals. Und weil ich das anfangs ganz gut gemacht habe, bin ich nie mehr rausgekommen.
Und seit dem Bloemfontein-Tor sind sie unsterblich. Hand aufs Herz: Sie wussten doch sofort, dass der Ball drin war!
Nein, das habe ich nicht wirklich gesehen. Ich wusste nur, dass ich alles richtig gemacht habe. Ich habe den Schuss erst spät gesehen, ich glaube, Lampard hatte mit der Pike geschossen. Ich habe mich gestreckt, lag quer in der Luft und sah, dass der Ball noch in Bewegung war und ich schnell hin musste, um den Ball nach vorne zu befördern. Eine Instinkthandlung. Ich wollte nicht, dass der Schiedsrichter an meiner Reaktion sieht, dass der Ball hinter der Linie war. Dass das eine besondere Aktion war, weiß ich übrigens inzwischen. Sie glauben gar nicht, wie oft ich Fragen danach schon beantworten musste.