Hamburg. 13 Jahre lang war Thomas Melchior spielsüchtig. Heute hilft er Hamburger Amateurvereinen beim Kampf gegen illegale Live-Wetten.

Der Himmel über der Adolf-Jäger-Kampfbahn ist bewölkt. Thomas Melchior (45) schlendert über den Rasen. Der gebürtige Görlitzer bewundert das Stadion von Altona 93. „Das soll weg?“, fragt er ungläubig. Melchior blickt Richtung Zeckenhügel, zur Tribüne, auf die Meckerecke. „Aber das ist doch noch echter, ursprünglicher Fußball!“

„Es geht um Geld. Wie immer“

Die Erklärung, dass auf diesem Grundstück Wohnungen entstehen werden, sorgt bei ihm für ein langsames Kopfnicken. „Aha“, sagt Melchior und seufzt. „Es geht um Geld. Wie immer.“ Melchior durchquert die Coaching Zone, in der bei den Oberligaspielen Altonas Trainer Andreas Bergmann steht, und setzt sich auf die Trainerbank. Ein guter Platz für ein Interview, wie er findet.

Seit einigen Wochen ist Thomas Melchior auf einer Mission. Präzise formuliert ist es das nächste Kapitel einer Mission, die vor fünf Jahren begann. Melchior hilft bundesweit hauptsächlich Amateurvereinen, Datenscouts von ihren Plätzen zu entfernen, die die Spielgeschehnisse unmittelbar von den Sportplätzen weitergeben, damit darauf in Echtzeit gewettet werden kann. Wetten auf Amateur- und Jugendfußballspiele sind in Deutschland laut Glücksspielstaatsvertrag aber verboten.

Melchior spricht schnell und eindringlich

Als Tippgeber kämpft Melchior zusammen mit den kleinen Clubs gegen illegal angebotene Live-Wetten. Sein Überblick über den Wettmarkt im Internet ist sehr umfassend. Wenn er über dieses Thema spricht, wird seine Stimme schneller und eindringlicher. Melchior schafft dabei das Kunststück stets verbindlich, nie aufdringlich zu wirken. Von „sauberem Sport“, „Fairplay“, „den Gefahren der Spielsucht“ und „dem Amateurfußball, der mit Füßen getreten wird“ ist dann die Rede.

Im Gegensatz zu manchem Funktionär sind das bei Melchior keine Floskeln. Er redet nicht nur, er handelt. Sein jüngster Coup: die Zusammenarbeit mit dem FC St. Pauli und dem HSV, auf deren U-19-Teams Live-Wetten im Internet platziert wurden. Beide Datenscouts wurden nach Tipps von Melchior von der Anlage verwiesen. Sogar St. Paulis Präsident Oke Göttlich schaltete sich ein und positionierte sich klar gegen illegale Live-Wetten. „Das zerstört unseren Sport“, sagte Göttlich.

Spielsucht hätte Melchiors Leben fast zerstört

Fast zerstört hätte das Wetten selbst Thomas Melchior. Eigentlich verlief sein Leben in ruhigen, gutbürgerlichen Bahnen. Eine liebende Partnerin, ein auskömmlicher Job als Bankkaufmann, privat nach dem Zehnkampf als Jugendlicher der Wechsel von der Leichtathletik auf den Fußballplatz als Amateurfußballer unter anderem beim Dresdner SC im rechten Mittelfeld. „Hin und zurück laufen auf dem Feld hat mir Spaß gemacht. Das war meine Leidenschaft“, sagt Melchior.

Im Jahr 2005 setzt Melchior zehn Euro auf einen Sieg des FC Bayern München im Champions-League-Spiel gegen Rapid Wien. Da weiß er noch nicht, wie lange sein Weg zurück später sein wird. Bayern gewinnt. Melchior gewinnt mit. Einen Euro. „Ich dachte mir, zehn Prozent Gewinn sind doch eine ganz gute Rendite. Also habe ich weitergemacht“, erinnert sich Melchior. Alles geht nun sehr schnell, er rutscht in die Spielsucht.

Laptop in den Kühlschrank - weiterwetten

Noch schneller geht es nicht mehr um Wissen oder um Fakten. Es geht ums Klicken und den Kick. Melchior wettet sehr viel auf Fußball – und zusätzlich auf fast alles, was ihm überhaupt so angeboten wird. Tschechisches Tischtennis, australische Amateurfußballspiele, sogar auf Bandy wettet er, den in Nordamerika und Nord- und Osteuropa beliebten Vorläufer des Eishockeys.

Er wettet sogar im Urlaub täglich. „Einmal“, sagt Melchior, „lief mein Laptop am Strand in der Dominikanischen Republik heiß. Ich habe ihn im Hotel in den Kühlschrank gelegt, damit ich bald weiterwetten konnte.“ Melchior verliert seinen Job als Bankkaufmann. Zwei weitere Banken geben ihm eine Chance. Bald ist er auch diese Jobs los. Er verliert seine Wohnung. Seine Partnerinnen wechseln. 2010 wird seine Tochter geboren. Er hat kaum Zeit für sie. Insgesamt verzockt Melchior 800.000 Euro.

Zocken während der Therapie

„Selbst während einer Spielsuchttherapie im Saarland habe ich gezockt. Immer war die Hoffnung da, mit einem großen Gewinn aus allem rauszukommen. Ich habe ja jeden Tag auch mal etwas gewonnen, was bei so vielen Tipps nicht ausbleibt. Gleichzeitig hatte ich Selbstmordgedanken“, sagt Melchior.

Als auch das letzte eigene Geld verbraucht ist, pumpt Melchior Freunde und Bekannte an. Später Fremde. Das geliehene Geld gibt er nicht zurück. Sein kaufmännisches Wissen über Vertriebsgespräche nutzt er nun zum Nachteil anderer Menschen aus. „Ich war sehr gut darin, anderen Leuten Dinge vorzuspielen“, sagt Melchior.

Die Handschellen klicken - das neue Leben beginnt

2019 bricht das Lügengebäude zusammen. Melchior wird in einem Elektronikmarkt in Dresden verhaftet. Die Anklage des Dresdner Amtsgerichts lautet auf Betrug, Unterschlagung und Diebstahl. „Als die Handschellen klickten, war das für mich ein Gefühl der Befreiung. Ich wusste, jetzt ist Schluss mit all den Lügen. Jetzt kann ich reinen Tisch machen und neu beginnen.“

Melchior erhält eine Haftstrafe von fünfeinhalb Jahren. Freikommen wird er schließlich nach drei Jahren und vier Monaten. Im Gefängnis fühlt er sich paradoxerweise völlig frei. Das Wetten vermisst er nicht. „Ich hatte keine Entzugserscheinungen. Ich war froh, aus all dem raus zu sein. Das Gefängnis“, findet Melchior, „hat mir das Leben gerettet.“

Melchior bittet um Verzeihung

Schnell findet er sich in die Strukturen des Gefängnisalltags ein, macht sich als Sporthallenreiniger, Bäckereigehilfe und Gartenlandschaftsbauer nützlich. Auch bei der Gefängniszeitschrift arbeitet er mit. Viele seiner Gedanken schreibt er auf, um den Kopf frei zu kriegen. Aus seinen vielen Notizen entsteht sein bis heute unveröffentlichtes Buch „Mein Leben ist kein Spiel“.

Nach seiner Entlassung in die Freiheit beginnt Melchiors Weg zurück ins Leben. Er geht auf die Menschen zu, die er belogen und betrogen hat, bittet um Verzeihung. Er verspricht, alles dafür zu tun, seine Schulden zurückzuzahlen. 200.000 Euro sind es aktuell noch.

Fußballfan ist er längst nicht mehr

Melchior absolviert diesmal erfolgreich Therapien zur Spielsucht, macht sich selbstständig, hält nun Vorträge bei Firmen, Vereinen und Schulen. „Ich kann niemanden vor der Spielsucht bewahren. Das muss jeder für sich selbst tun. Aber ich kann über die Gefahren der Spielsucht aufklären. Geht auch nur ein Mensch einen anderen Weg als ich, habe ich schon etwas bewirkt.“

Seit drei Monaten lebt Melchior mit seiner neuen Partnerin in Magdeburg zusammen. Zu seiner Tochter hat er nach neun Jahren Funkstille nun wieder Kontakt. Für den Bielefelder Verlag Delius Klasing schreibt er an einem Buch über seine Geschichte, das Anfang kommenden Jahres erscheinen wird. Fußballfan ist Melchior längst nicht mehr. „Kein Spiel, auf das gewettet werden kann, kann ich unbeschwert genießen“, sagt er.

Warum haben Verbände Wettanbieter als Partner?

Die Rituale der Fans sind nicht mehr seins. Die allgegenwärtige Werbung für Wettanbieter und die Partnerschaft von Fußball-Verbänden mit Sportwettenanbietern kann er nicht nachvollziehen. 80 bis 90 Prozent der Umsätze bei Sportwettenanbietern werden laut Melchiors Schätzung durch Spielsüchtige erzielt. Selbst eine Wette unter Freunden um fünf Euro auf den Ausgang eines Spiels würde er ablehnen. „Niemals!“, sagt er energisch, als er mit dieser Möglichkeit konfrontiert wird.

Melchior sehnt sich nach dem ehrlichen und wahrhaftigen Fußball. Einem Fußball ohne Wettquoten und dem immer mitschwingenden Verdacht der Manipulation. Er ist Realist genug zu wissen, dass es diesen paradiesischen Zustand nie geben wird. Er weiß auch anhand seiner eigenen Verfehlungen, zu denen er bewundernswert offen steht, während er Tag für Tag in seinem Leben reinen Tisch macht, wie fehlbar Menschen sind.

Melchior: „Hamburger Oberliga Vorbild für Deutschland“

„Aber“, sagt Melchior, „wir alle können etwas tun. In der Oberliga Hamburg waren am letzten Wochenende keine Datenscouts unterwegs. Es gab keine Live-Wetten. Weil die Vereine sich gewehrt haben. Ich werde ihnen dabei weiterhin helfen. Was hier in Hamburg passiert, kann ein Vorbild für den Amateurfußball in ganz Deutschland sein.“

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Als Melchior diesen letzten Satz gesagt hat, schiebt sich die Sonne hinter der Wolkendecke hervor und wirft ihre Strahlen auf den Rasen. Es wirkt fast zu kitschig. „Das passt ja“, sagt Melchior lächelnd. Er blickt auf das Spielfeld, schließt die Augen und sieht für einen Moment vollkommen glücklich aus.