Hamburg. Thomas Melchior (45) arbeitete mit dem Niendorfer TSV und Sasel zusammen, um Datenscouts zu enttarnen. Das soll erst der Anfang sein.

Thomas Melchior (45) gab zwei Hamburger Oberligisten zweieinhalb Stunden vor Beginn des sechsten Spieltags den Hinweis, dass Live-Wetten auf ihre Begegnungen geplant sind. Im Verbund mit Melchior, der früher als Spielsüchtiger 800.000 Euro verzockt und sein Leben ruiniert hatte, enttarnten die Verantwortlichen des Niendorfer TSV und des TSV Sasel auf ihren Anlagen am Sachsenweg und am Parkweg die Datenscouts, die die Spielgeschehnisse an ihre Auftraggeber weitergaben. Diese wiederum stellten sie den Wettanbietern international für Live-Wetten zur Verfügung.

Als die beiden Männer sich nicht mehr auf den Anlagen der Vereine befanden, brach der Datenstrom ab. Es konnten keine Live-Wetten mehr platziert werden. Melchior ist mittlerweile selbstständig, hält Vorträge an Schulen sowie bei Vereinen und Firmen zur Prävention. „Ich will andere Menschen über die Gefahren der Spielsucht aufklären“, sagt er. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt bietet Melchior dem Hamburger Fußball-Verband (HFV) und den Amateurfußballvereinen in Hamburg seine Mithilfe beim Kampf gegen illegale Sportwetten an.

Herr Melchior, seit wann engagieren Sie sich gegen Spielsucht?
Thomas Melchior: Der Schlüsselmoment war für mich meine Festnahme im Jahr 2019. Ich hatte Menschen betrogen, um an Geld für meine Spielsucht zu kommen. Mit der Festnahme fühlte ich mich auf einmal frei. Ich begann schon im Gefängnis, ein neues Leben zu führen und mich aktiv gegen Spielsucht einzusetzen. Wobei ich gleich klarstellen möchte: Die Spielsucht ist für mich nur die eine Seite der Medaille.

Was ist die andere Seite?
Die extreme Anfälligkeit des Sports für Wettmanipulationen aufgrund dieses riesigen Milliardenmarktes mit den Sportwetten. Gerade der Amateursport ist hier besonders gefährdet. Vor einigen Wochen sah ich die ARD-Dokumentation „Angriff auf den Amateurfußball“ und habe für mich am nächsten Tag beschlossen, den Amateurfußballvereinen künftig Hinweise zu geben, wenn auf ihre Begegnungen Live-Wetten geplant sind. So wie jetzt dem Niendorfer TSV und dem TSV Sasel.

Live-Wetten: Gefahr von Manipulation steigt

Woran liegt denn die besondere Gefahr bei Live-Wetten?
In den hohen Quoten für bestimmte ungewöhnliche Spielereignisse. Diese wiederum können durch Manipulation hervorgerufen werden – damit dann abkassiert wird. Ein Beispiel: Ein Elfmeter in der Nachspielzeit ist äußerst ungewöhnlich. Sie können aber natürlich darauf setzen. Wenn jetzt vorher mit einem Spieler oder mehreren Spielern und/oder dem Schiedsrichter gewisse Absprachen herrschen, wird es diesen Elfmeter aber geben. Bei den Wettanbietern jedoch steigen nur Minuten vorher die Quoten auf den Elfmeter, weil der ja angeblich immer unwahrscheinlicher wird. Genau in diesen Momenten werden die Live-Wetten platziert. Sobald der Elfmeterpfiff erfolgt, ist viel Geld gewonnen worden. Für die Aktiven kann das sehr verlockend sein, wenn sie gut geködert werden.

Worauf kann denn alles gesetzt werden?
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Nächste Ecke, nächster Einwurf, nächster Freistoß, wann gibt es einen Elfer und vieles mehr. Ich habe manchmal das Gefühl, wenn ich mir den internationalen Markt für Wetten auf Amateurfußballspiele im Internet anschaue, es ist ein Wunder, dass man noch nicht auf die Farbe der Schuhe der Spieler wetten kann. Als ich noch spielsüchtig war, habe ich unter anderem auf australische und isländische Amateurfußballspiele gewettet. Ich kannte da keinen. Es ging nur um den Kick. Oder ich habe auf tschechisches Tischtennis gewettet. Nachts um drei Uhr. Einmal sah ich so ein Spiel im Livestream. Zwei dickbäuchige Menschen, reine Amateure und Hobbysportler, standen da an der Platte. Ich begriff: Es kann auf fast alles gewettet werden. Mir wurde richtig schlecht in diesen Momenten.

Wie lief Ihre Zusammenarbeit mit den Clubs Niendorfer TSV und TSV Sasel ab?
Ich habe auf verschiedenen Seiten gesehen, dass auf die Spiele beider Clubs Live-Wetten geplant sind. Daraufhin informierte ich die Clubverantwortlichen. Diese reagierten sofort und machten während der Partien ihrer Clubs die Datenscouts ausfindig und verwiesen sie der Anlage. Wir standen währenddessen ständig in Kontakt. Das war eine hervorragende Zusammenarbeit toller Menschen, denen der faire und saubere Amateurfußball wichtig ist. Ich denke, dazu haben wir alle gemeinsam einen Beitrag leisten können. Bundesweit konnte ich übrigens in den vergangenen drei Wochen dabei mithelfen, acht Datenscouts zu enttarnen. Und ich bin sicher: Es gibt noch viele, viele mehr.

Melchior: Kampf gegen Datenscouts im Amateurfußball

Wetten auf Amateurspiele sind ja laut Glücksspielstaatsvertrag in Deutschland verboten. Nur arbeiten manche Anbieter ohne Lizenz oder eben nicht mit einer deutschen Lizenz. Wie beurteilen Sie die Rechtslage?
Ich bin kein Jurist. Aber ich habe natürlich Fragen: Wie beispielsweise stellen gewisse Firmen sicher, dass Kunden in Deutschland nicht im Internet auf deutsche Amateurspiele wetten? Zumal das Wettangebot von einigen dieser Anbieter sogar deutschsprachig ist und sich damit aus meiner Sicht auch gezielt an Nutzer in Deutschland wendet. Es gibt beispielweise eine in Costa Rica registrierte, deutschsprachige Seite, wo das der Fall ist. Der Anbieter arbeitet ohne deutsche Lizenz, aber Nutzer in Deutschland können sich dort registrieren. Aus meiner Sicht stellt das einen Verstoß gegen den Glücksspielstaatsvertrag dar. Es gibt überhaupt so einige Tricks. So kann ich auch über die Grenze fahren und im Ausland auf deutsche Amateurfußballspiele setzen. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Für mich ist die Frage der Rechtslage wichtig. Hier muss juristische Klarheit geschaffen und illegales Handeln konsequent verfolgt werden. Aber für mich ist ein anderer Hebel noch entscheidender.

Welcher?
Der Kampf gegen die Datenscouts auf den Amateurfußballplätzen. Dass international auf Amateurfußballspiele gesetzt wird, werden wir nicht verhindern können. Jedes Land hat seine eigene Gesetzgebung. Aber die größten Gefahren für Spielmanipulationen lauern nun einmal in den Live-Wetten. Ohne Datenscouts gibt es aber keine Daten von den Plätzen – und keine Live-Wetten. Ich wünsche mir eine Verankerung des Verbots von Datenscouts in den Hausordnungen der Vereine. Dazu bei den Spielen ein aktives Aufspüren dieser Menschen, um sie gleich darauf von der Anlage zu verweisen.

Wofür braucht es die Datenscouts überhaupt, wenn der Hamburger Fußball-Verband doch jedes Spiel seit dieser Saison live streamt?
Weil der Livestream eine Verzögerung von ein paar Sekunden hat. Das ist dann für die Wettanbieter zu heikel, darauf basierend Quoten rauszugeben. Sonst könnte ich als Zuschauer auf dem Sportplatz zum Beispiel im Moment eines Tores meine bereits digital vorbereitete Wette auf diesen Treffer abschicken. Der Livestream zeigt das Tor erst einige Sekunden später – und ich habe gewonnen. Nein, es muss wirklich absolut in Echtzeit weitergegeben werden, was auf dem Platz passiert. Durch einen Datenscout.

Haben Sie den Hamburger Fußball-Verband mit all Ihren Erkenntnissen schon kontaktiert?
Ja, ich habe meine Zusammenarbeit angeboten. Bei dem entsprechenden Mitarbeiter stieß ich telefonisch, sagen wir es mal so, nicht auf so großes Interesse. Aber der Präsident des Hamburger Fußball-Verbandes Christian Okun hat ja, wie ich gelesen habe, den illegalen Sportwetten den Kampf angesagt. Ich würde mich freuen, mit ihm in Kontakt treten zu können.

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Auch mit den Hamburger Clubs?
Klar. Wer mag, der kann sich an mich wenden. Und wenn ich Hinweise habe auf Live-Wetten, werde ich mich an die Clubs wenden. Wissen Sie, ich sehe im Netz auf den entsprechenden Webseiten so oft, wie Quoten sprunghaft steigen und plötzlich genau das eintritt, was hohe Ausschüttungen bringt. Das kann nicht alles Zufall sein. Ich bin leider der Überzeugung, dass immer und immer wieder Amateurfußballspiele in Deutschland beeinflusst und verschoben werden. Das sollte nicht so sein. Das Herzblut und die Arbeit von so vielen fairen und ehrlichen Spielern, Trainern, Managern, Präsidenten, Betreuern und überhaupt allen, die sich für ihren Amateurverein einsetzen, wird so mit Füßen getreten. Nicht zuletzt auch die Liebe der Amateurfußballfans zu ihrem Team. Es muss etwas dagegen getan werden. Und vielleicht ist das, was jetzt an die Öffentlichkeit kommt, der Beginn von etwas ganz Großem im Kampf gegen illegale Sportwetten. Ich bin jedenfalls bereit, dabei mitzuhelfen.