Hamburg. Um Spanien im Viertelfinale zu bezwingen, sollte Julian Nagelsmann ungewöhnliche Maßnahmen erwägen, meint der Abendblatt-Kolumnist.
Es ist erst 19 Monate her, da präsentierten sich die Fußball-Nationalmannschaften Deutschlands und Spaniens in einem eher beklagenswerten Zustand. Bei der WM Ende 2022 in Katar schieden zunächst die Deutschen nach den Gruppenspielen, dann die Spanier im Achtelfinale gegen Marokko (0:3 im Elfmeterschießen) aus. Beide hatten zuvor 1:2 gegen Japan verloren. Die direkte Begegnung endete 1:1.
DFB hielt zu lange an Bundestrainer Hansi Flick fest
Die vergangenen gut anderthalb Jahre, das ist die bisher wichtigste Erkenntnis dieser EM, scheinen die Spanier sinnvoller als die Deutschen genutzt zu haben. Während die DFB-Auswahl lange am damaligen Bundestrainer Hansi Flick festhielt, sein Nachfolger Julian Nagelsmann im vergangenen Herbst erst einen Fehl-, dann in diesem Frühjahr einen Neustart hinlegte, nutzten die Iberer die Zeit, um ihre Mannschaft kontinuierlich weiterzuentwickeln, Jungstars wie Lamine Yamal und Nico Williams einzubauen.
Das Ergebnis ist in diesen Wochen zu beobachten. Nach vier überzeugen Auftritten gelten die Spanier inzwischen als Favorit dieser Europameisterschaft, Deutschland soll für sie im Viertelfinale an diesem Freitag nur eine Zwischenstation werden.
Bei allem demonstrierten Selbstverständnis wissen die Spanier, dass sie in Stuttgart vor der ersten Herausforderung in diesem Turnier stehen. Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für die deutsche Mannschaft. Sie muss beweisen, dass sie in drei Monaten jene Fortschritte gemacht hat, für die sich der Gegner sechsmal so viel Zeit nehmen konnte. Das ist eine Herkulesaufgabe für Team und Trainer.
Deutsche Mannschaft beweist Qualität, aber nicht über 90 Minuten
Viele gute Ansätze sind aber zu erkennen. Qualität ist augenscheinlich vorhanden, an der Umsetzung über komplette 90 Minuten muss indes gearbeitet werden. Es gab, ausgenommen beim 5:1 gegen überforderte und nach dem Platzverweis dezimierte Schotten, in jeder der weiteren drei Begegnungen immer wieder Brüche im deutschen Spiel, in denen Rhythmus und Abstimmung verloren gingen, Phasen, in denen sich den Gegnern Chancen eröffneten, den Matchverlauf zu wenden. Das ist bei einem neu zusammengestellten Team nicht verwunderlich, nicht zu kritisieren. Automatismen entwickeln sich eben aus einer Summe an Erfahrungen.
Dennoch besteht kein Anlass zu Pessimismus. Diese Mannschaft strahlt große Harmonie aus, tritt auf und abseits des Platzes als Einheit auf. Jeder Spieler ist bereit für andere Wege zu gehen, Fehler werden gemeinsam ausgebügelt. Mit diesem Engagement, dieser Intensität, in dieser Atmosphäre ist auch ein möglicherweise spielerisch besseres Team wie Spanien zu bezwingen – vor allem mit der Unterstützung der eigenen Fans. Wir dürfen uns in jeden Fall auf ein tolles Fußballspiel freuen. Die Spanier versuchen nicht, das Spiel des Gegners zu verhindern, sondern wollen ihr eigenes gestalten, schalten nach Ballverlust sofort auf Balleroberung um.
Füllkrug ist im Angriffszentrum effektiver als Havertz
Wer das geeignete Personal gegen dieses Kreativkollektiv sein könnte, darüber wird intern und in der Öffentlichkeit gerade viel diskutiert. Unproblematisch erscheint mir die Besetzung des zweiten Innenverteidigers neben Antonio Rüdiger. Jonathan Tah sollte nach seiner Gelbsperre gegen Dänemark ins Team zurückkehren. Er hatte sich zuvor nichts zuschulden kommen lassen.
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Kai Havertz oder Niclas Füllkrug? Havertz schoss im bisherigen Turnier 15-mal aufs Tor, nur Portugals Cristiano Ronaldo (20-mal) versuchte es öfter. Heraus kamen zwei Elfmetertore. Havertz’ Laufleistung ist unbestritten wichtig für das Team, Füllkrug wirkt auf mich beim Torabschluss gieriger – und er ist effektiver. Auch mit ihm kann im Angriff kombiniert werden.
Wenn Wirtz und Sané spielen, muss Kapitän Gündogan auf die Bank
Florian Wirtz oder Leroy Sané? Beide können mit Einzelaktionen ein Spiel entscheiden. Wirtz und Jamal Musiala sind wie die Spanier Yamal und Williams Ausnahmetalente, gehören für mich beide in die Mannschaft. Wirtz kann ein Spiel lesen, erkennt Lösungen, trifft meistens die richtigen Entscheidungen. Mein Vorschlag wäre: Wirtz und Sané. Dann wäre allerdings kein Platz für İlkay Gündoğan.
Den Kapitän auf die Bank zu setzen, vor allem eine Persönlichkeit wie Gündoğan, diese Entscheidung fällt allerdings jedem Trainer äußerst schwer. Gegen diese Spanier könnten aber erstmals ungewöhnliche Maßnahmen vonnöten sein.