Hamburg. Trotz des vorzeitigen Achtelfinaleinzugs der deutschen Nationalmannschaft bleiben Fragezeichen, findet unser Autor Felix Magath.

Wie Millionen Menschen in unserem Land hat auch mich das EM-Fieber gepackt. Die durchweg interessanten Spiele dieser Europameisterschaft habe ich vor dem Fernseher verfolgt und dabei ein gutes Niveau gesehen. Einen klaren Favoriten für den Turniersieg habe ich noch nicht erkannt. Zum Kandidatenkreis für den Titelgewinn würde ich auch unsere Mannschaft zählen, obwohl sie in der Partie gegen Ungarn nicht ganz so beeindruckend agiert hat wie in der ersten Partie gegen die Schottland. Wenn wir ehrlich sind, hätte die deutsche Elf einige Male in Rückstand geraten können.

Mein Zwischenfazit nach den ersten beiden Spielen fällt deshalb geteilt aus: Einerseits ist die DFB-Elf, wenn Spieler wie Jamal Musiala oder Florian Wirtz an ihre Topform kommen, absolut titelfähig, was die Offensive betrifft. In Bezug auf die Defensivabteilung würde ich mir dieses Urteil zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht zutrauen. Wir haben der ungarischen Mannschaft am Mittwoch zu viele Torchancen zugestanden, mir waren zu viele Unebenheiten im Spiel, der Verbund schien mir noch nicht sicher genug, obwohl für mich beispielsweise Jonathan Tah ein auffällig gutes Spiel gezeigt hat.

Magath: Nagelsmann ging mit Aufstellung ins Risiko

Ich möchte aber betonen, dass diese noch nicht perfekte Abstimmung und Balance zwischen den Mannschaftsteilen kein Zufall ist, schließlich befindet sich das Team von Julian Nagelsmann mitten in einem Findungsprozess. Von einer eingespielten Mannschaft vor dem Turnierstart konnte ja keine Rede sein. Insofern ging Nagelsmann ein gewisses Risiko ein, mit einer so offensiven Ausrichtung in die EM zu starten, mit den beiden nach vorne ausgerichteten Außenverteidigern, Toni Kroos und den vier Spielern davor. Wie sich herausstellte, war diese Ausrichtung aber zu 100 Prozent richtig.

Häufig ist es ja so, dass sich durch Stärken einer Fußballmannschaft automatisch gewisse Schwächen ergeben. Wie stabil das deutsche Team gegen stärkere Gegner auftreten kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht wirklich absehbar. Kann dann auch die spielfreudige Offensive die Defensive entlasten? Ist die bisher gewählte Aufstellung tatsächlich dann noch die richtige? Da würde ich noch ein Fragezeichen setzen, kann dies aber aus der Ferne natürlich schwer beurteilen.

Magath: Schweiz enttäuschte gegen Schottland

Von der Schweiz, dem letzten Gruppengegner der deutschen Nationalmannschaft am Sonntag, war ich am Mittwoch im Spiel gegen die Schotten enttäuscht. Ich hatte die Eidgenossen im Vorwege stärker eingestuft und ihnen eine längere Verweildauer im Turnier zugetraut, insofern hat mich ihr letzter Auftritt gewundert. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir als Gruppensieger ins Achtelfinale ziehen.

Grundsätzlich warne ich davor, zu vorschnell endgültige Prognosen zu wagen. Häufig hatten Titelträger von großen Turnier anfangs Probleme, man denke nur an die Argentinier, die bei der WM in Katar gegen Saudi-Arabien einen Fehlstart hinlegten. Auch die Engländer, die die Physis mitbringen für so ein Turnier, starteten gegen Serbien wenig überzeugend.

Magaths Turnierfavorit bleibt Portugal

Bei den vor dem Turnierbeginn genannten üblichen Topfavoriten bleibe ich ebenfalls vorsichtig. Keine Frage, die Franzosen haben überragende Einzelspieler, die Mannschaft machte auf mich aber keinen überragenden Eindruck. Bei Spielern wie Ousmane Dembélé weiß man nie, welche Leistung man bekommt, für mich steht das Team von Didier Deschamps nicht ganz oben auf der Liste.

Auch mein persönlicher Turnierfavorit, die Portugiesen, haben sehr hart für den Auftakterfolg gegen die Tschechen arbeiten müssen. Dennoch bleibe ich dabei: Viele Spieler stehen bei den besten Vereinen der Welt unter Vertrag, sie haben so viel Qualität am Ball, dass sie ohne Zweifel das Potenzial für den ganzen großen Wurf besitzen.

Auffällig natürlich, dass mit Pepe und Cristiano Ronaldo ein 41-Jähriger und ein 39-Jähriger zur Startelf gehörten. In der Defensive kann die durch das Alter zwangsläufig abnehmende Dynamik noch durch Erfahrung und ein geschicktes Stellungsspiel kompensiert werden. Ich bin deshalb vor allem gespannt, wie Ronaldo durch das Turnier kommen wird. Ein Spiel auf internationalem Niveau zu absolvieren, ist kein Problem. Diese Leistung am Ende einer Meisterschaft aber über mehrere EM-Wochen zu bestätigen, ist eine Herausforderung, da sich bei älteren Spielern vor allem die Regenerationszeit verlängert.