Hamburg. 1988 siegte die Niederlande gegen Deutschland 2:1 im Volkspark. Warum das EM-Spiel heute ganz anders ausgegangen wäre. Nun kommt Polen.
Er habe nur ein paar Minuten Zeit, sagt Jürgen Kohler, als er ans Telefon geht. Doch aus den „paar Minuten“ wird schnell eine Dreiviertelstunde. Kohler nimmt sich Zeit, denkt nach, antwortet lang. Schließlich geht es um das Spiel der Spiele: Deutschland gegen die Niederlande. In Hamburg. 1988. EM-Halbfinale. „Der Volkspark war in holländischer Hand“, sagt Kohler. „Alles war in Oranje. Trotzdem spielten wir besser.“
Wenn am Sonntag die Niederlande gegen die Polen erstmals wieder in einem EM-Spiel in Hamburg aufeinandertreffen, dann ist dieser Dienstagabend im Juni schon 36 Jahre her. Oft sagt Kohler in diesem Gespräch „wie gesagt“, weil er wahrscheinlich auf kein Spiel in seiner Karriere so oft angesprochen wurde wie auf dieses. Oder besser: auf keinen Zweikampf wie auf diesen. Jürgen Kohler gegen Marco van Basten – ein episches EM-Duell.
1988: In Holland ist Spiel in Hamburg unvergessen
Für viele Niederländer war Hamburg 88 so ähnlich wie für Deutsche Bern 54 oder Rom 90. Es ist ein Ereignis, das sich ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Fußballnation festgesetzt hat. „De Telegraaf“ erinnerte nach der Partie an Hollands WM-Schmach 1974 gegen die DFB-Auswahl und titelte: „Endlich Rache!“ Und Journalisten, die im Volkspark dabei waren, erinnern sich vor allem an zwei Hinterteile: Zum einen ließ ein holländischer Medienvertreter im Überschwang der Gefühle auf der Pressetribüne die Hosen runter und zeigte seine ganze Pracht. Und zum anderen nutzte Ronald Koeman seinen Allerwertesten, um sich diesen nach dem Abpfiff mit Olaf Thons Trikot abzuwischen.
Holland in Hamburg. Das war und ist mehr als nur ein Spiel. Wenn Polen an diesem Sonntag auf die Niederlande trifft, dann wird im Volkspark erneut Oranje dominieren. Genau wie 1988. „Het Volksparkstadion is van Oranje!“, soll damals der niederländische Fernsehreporter ten Napel nach van Bastens Siegtor ins Mikrofon geschrieben haben. „Das Volksparkstadion gehört Oranje.“
Van Basten will nicht mehr über das 2:1 sprechen
Darüber muss man sprechen. Oder doch nicht? Jürgen sei ein netter Kerl, aber er habe schon so oft über dieses Spiel gesprochen, beantwortet van Basten die Abendblatt-Anfrage per WhatsApp, ob auch er gemeinsam mit Kohler noch einmal über das historische 2:1 von Hamburg sprechen wolle. „Sorry“, schreibt van Basten noch. Sogar zweimal.
Zweimal war es auch, dass dieser van Basten am 21. Juni 1988 im ausverkauften Volksparkstadion den entscheidenden Schritt schneller war. Zumindest offiziell.
Bis zum Elfmeter hatte Kohler van Basten im Griff
„Ich hatte im gesamten Turnier noch keinen einzigen Zweikampf verloren“, erinnert sich Kohler. Italiens Superstar Gianluca Vialli hatte im ersten EM-Spiel keine Chance gegen ihn, auch nicht Dänemarks Flemming Povlsen im zweiten Gruppenspiel oder Spaniens Toptorjäger Emilio Butragueño in Partie Nummer drei. „Und auch im Spiel gegen die Niederlande hatte ich van Basten bis zu dieser einen Szene immer in Griff“, sagt Kohler.
Diese eine Szene. Deutschland führte 1:0 durch einen verwandelten Strafstoß von Lothar Matthäus. Dann die 74. Minute. Marco van Basten war schnell, doch Kohler war schneller. Mit seinem langen rechten Bein spitzelte er dem Niederländer den Ball vom Fuß. Doch zum Entsetzen aller entschied der rumänische Schiedsrichter Ioan Igna auf Foulspiel und Elfmeter.
VAR hätte Entscheidung wohl zurückgenommen
„Ich konnte das zunächst gar nicht glauben“, sagt Kohler auch dreieinhalb Jahrzehnte später noch aufgebracht. „Ich wusste, dass ich den Ball gespielt habe. Und alle anderen im Stadion wussten es auch. Ich wusste aber auch, dass er diesen Pfiff niemals zurücknehmen wird.“ Der Videorichter war noch nicht erfunden. „Mit dem VAR hätte es diese Entscheidung niemals gegeben“, sagt Kohler.
Ronald Koeman war das egal. Er trat an – und traf zum 1:1. „Jetzt war wieder alles offen, aber man merkte, dass die Niederländer plötzlich Oberwasser bekamen“, erinnert sich Kohler. Und dann folgte kurz vor Schluss Szene Nummer zwei, die ihn wohl bis an sein Lebensende verfolgen wird: Wieder trat van Basten an, wieder machte Kohler ein langes Bein, doch diesmal spitzelte der Holländer den Ball im letzten Moment an ihm und Torhüter Eike Immel vorbei ins Tor. „Ich wusste nach dem 2:1: Das war‘s“, sagt Kohler heute.
Matthäus ärgerte sich über „zu feines“ Hamburger Publikum
Kohler und seine Kollegen waren am Boden zerstört. Laut dem „Tagesspiegel“ soll Lothar Matthäus neben dem Schiedsrichter noch einen zweiten Schuldigen für die bittere Pleite ausgemacht haben. „Haben Sie etwa das deutsche Publikum gehört?“, soll der aufgebrachte Matthäus einen Reporter nach dem Abpfiff gefragt haben. „In München wäre das anders gelaufen, aber hier sind die Leute sich offenbar zu fein, die eigene Mannschaft zu unterstützen!“
Kohler lacht. „Wir waren natürlich alle enttäuscht, aber an Niederlagen kann man auch wachsen.“ Und wie. Zwei Jahre später revanchierten sich Matthäus, Kohler und Co. im WM-Achtelfinale mit 2:1 gegen die Niederlande – und holten sich wenig später den WM-Pokal. „Die Niederlage in Hamburg war der Anfang unserer Erfolgsgeschichte, die im WM-Triumph gipfelte.“
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Und Kohler? Hat noch immer sein EM-Trikot von 1988, als er als Verlierer vom Platz gegangen war. Es liegt bis heute in seinem Haus in Bonn in einer Vitrine. „Ich wollte das Trikot 1988 nicht tauschen“, sagt er. Er brauchte die Erinnerungen an die 74. und 89. Minute, um in den Jahren danach zu dem zu werden, was er wurde: der wahrscheinlich beste Abwehrspieler der Welt.
Das EM-Auftaktspiel der Niederlande gegen die Polen am Sonntag wird sich Kohler natürlich vor dem Fernseher anschauen. Bis zu 40.000 Niederländer sollen am Wochenende in der Hansestadt sein. Und diesmal freut sich Kohler auf Holland in Hamburg, auf ein ausverkauftes Stadion, auf Oranje satt.
Kohler und van Basten tauschten Jahre später Trikots
Trikots hat Jürgen Kohler übrigens später doch getauscht. Nach einem Sieg mit Juventus Turin gegen den AC Mailand sei Marco van Basten Jahre danach auf dem Rasen auf seinen Dauerrivalen, mittlerweile Weltmeister, zugegangen und habe gefragt, ob sie nun nicht endlich doch ihre Trikots tauschen wollen.
Kohler tauschte – und hofft nun auf die Revanche 2.0. „Bei dieser Europameisterschaft sind wir besser“, sagt der Ex-Nationalspieler zum Abschied. „Bei dieser Heim-EM ist Deutschland nun endlich an der Reihe.“