Hamburg. Der Buchholzer Radprofi sieht nach den schweren Verletzungen vieler Topstars auch die Fahrer in der Verantwortung. Wie geht es weiter?
Die Bilder vom 16. Juni 2023 wird Nikias Arndt wohl niemals vergessen. Rund ein Dutzend Sanitäter und Ersthelfer standen in einer Schlucht am Schweizer Albula-Pass, kämpften vergeblich um das Leben von Gino Mäder (26✝). Der Radprofi vom Team Bahrain-Victorious, für das auch der gebürtige Buchholzer Arndt fährt, war bei einer Abfahrt auf der Tour de Suisse mit hohem Tempo gestürzt und anschließend in einem Schweizer Krankenhaus gestorben. „Wir werden in Zukunft für Gino fahren und seinen Traum weiterleben“, sagte Arndt damals wenige Wochen nach dem Unglück dem Abendblatt.
In den vergangenen Wochen produzierte der Radsport weitere bedrückende Nachrichten. Wieder gab es schlimme Stürze, die manche Fahrer fast ihr Leben kosteten. Der gebürtige Wedeler Lennard Kämna (27) etwa lag nach einem Trainingsunfall auf Teneriffa vor rund zwei Wochen mit Kochenbrüchen und einer Lungenprellung vier Tage auf der Intensivstation, ist mittlerweile aber zumindest wieder auf die Normalstation verlegt worden. „Lennard hat richtig Glück gehabt“, sagte Ralph Denk, Teamchef von Kämnas Rennstall Bora-hansgrohe.
Radsport-Stürze: Etliche Topstars der Szene betroffen
Während Kämnas verhängnisvoller Zusammenstoß mit einem entgegenkommenden Auto wohl ein tragischer, aber nicht selbstverschuldeter Unfall war, standen die schweren Stürze auf der Baskenland-Rundfahrt zuletzt auch im Zusammenhang mit dem Verhalten der einzelnen Fahrer. So erlitten in einem Massensturz etwa der slowenische Star Primoz Roglic (34), Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard (27) und Zeitfahrweltmeister Remco Evenepoel (24) teils schwere Verletzungen.
Nikias Arndt, der sich bei einem Sturz 2019 mal eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte, sonst aber eher glimpflich davonkam, war mit seinem Team Bahrain-Victorious ebenfalls im Baskenland dabei. „Wir klagen als Sportler sehr viel über gefährliche Streckenführungen, zu viele Motorräder im Feld und viele andere Dinge. Die Stürze auf der Baskenland-Rundfahrt waren leider zum überwiegenden Teil von uns Fahrern selbst verschuldet. Das hat mich im Nachhinein ein bisschen geärgert“, sagt er.
Vingegaard verbrachte zwölf Tage im Krankenhaus
Während Roglic, der Topfahrer des deutschen Teams Bora-hansgrohe, mit Prellungen und Abschürfungen davon kam, brach sich Evenepoel (Team Soudal Quick-Step) Schulterblatt und Schlüsselbein, musste operiert werden. Tour-Champion Vingegaard (Visma- Lease a Bike) erlitt neben einem Schlüsselbeinbruch mehrere Rippenbrüche, eine Lungenquetschung sowie einen sogenannten Pneumothorax, bei dem Luft in den Spalt zwischen Lunge und Brustwand eindringt.
Zwölf Tage Krankenhaus waren die Folge, der Tour-Start erscheint unsicher. Zuvor hatte sich auch der Belgier Wout van Aert bei der Flandern-Rundfahrt bei einem Massensturz das Schlüsselbein und sieben Rippen gebrochen. Thierry Gouvenou, Renndirektor des Klassikers Paris-Roubaix, sprach angesichts der vielen Stürze von einem „Massaker“. Ist der Radsport zu unsicher?
Nikias Arndt verlor im vergangenen Jahr seinen Teamkollegen
Stürze, auch tödliche, gab es im Profi-Radsport schon immer. Auch die Sicherheitsdebatte wird seit etlichen Jahren geführt. Eine Lösung gibt es bisher aber nicht. Die bis zu 18.000 Euro teuren Räder werden Jahr für Jahr weiterentwickelt, neue Gummimischungen, bessere Scheibenbremsen, aerodynamische Helme – all das erhöht das Renntempo der Fahrer. Wer da nicht mitgeht, verliert.
„Die Rennen werden insgesamt immer schneller, die Topleute versuchen schon deutlich früher, sich vorne abzusetzen. Die Teams hecheln den Punkten hinterher, wollen in jeder einzelnen Etappe etwas erreichen. Das ist eine Entwicklung, die zu einer gestiegenen Hektik im Fahrerfeld beiträgt“, weiß Arndt. „Es ist das Wesen des Leistungssports, immer das Maximum rausholen zu wollen. Ich finde es grundsätzlich auch nicht negativ, dass die Rennen immer intensiver werden.“
Arndt apelliert an die Eigenverantwortung der Fahrer
Für Arndt, der seit mehr als zehn Jahren im Profi-Zirkus dabei ist, gehört aber auch die Verantwortung der einzelnen Fahrer zur Lösung. Auch der 32-Jährige selbst, der mit seiner Frau Glenda Elise in ein paar Wochen das erste Kind erwartet, ist vernünftiger geworden.
„Ich war noch nie der Typ, der mit überhöhtem Risiko in viel zu kleine Lücken reingehalten hat. Trotzdem kann ich durch meine Erfahrung mittlerweile noch besser abschätzen, in welchen Situationen es sinnvoller ist, auch mal kurz auf die Bremse zu drücken. Wenn man aber auf den letzten Kilometern einer Etappe ist und um den Sieg mitfährt, muss man einfach ins Risiko gehen. Wenn man da kurz die Bremse anfasst, hat man oft schon verloren“, sagt er.
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Das nächste Rennen, das der in der Nähe von Köln lebende Profi bestreitet, ist die Tour de Romandie (23. bis 28. April), im Anschluss geht es für ihn im Mai ins Höhentrainingslager. Auch dort warten neben fordernden Anstiegen wieder extrem schnelle Abfahrten. Alles in Vorbereitung auf die Tour de France (29. Juni bis 21. Juli), dem Saisonhöhepunkt. Arndt steht für die Tour auf der Longlist seines Teams, das endgültige Aufgebot wird erst kurzfristig bekannt gegeben.
„Nachdem ich im vergangenen Jahr kein Rennen gewonnen habe, will ich das in diesem Jahr mal wieder schaffen“, sagt er. „Der Gewinn einer Tour-de-France-Etappe bleibt natürlich nach wie vor ein Ziel. Vielleicht bekomme ich in diesem Jahr dafür die Chance.“ Das Risiko, das weiß Arndt, fährt dabei aber immer mit.