Hamburg. Vor der Tour de France spricht der Buchholzer erstmals über seinen verunglückten Teamkollegen. Was sich Gino Mäders Eltern wünschten.
Der traurigste Tag in Nikias Arndts Karriere liegt gerade einmal zwei Wochen zurück. Am Morgen der fünften Etappe der Tour de Suisse, dem Vorbereitungsrennen für die Tour de France, hatte der Buchholzer Radprofi noch gemeinsam mit Gino Mäder im Teambus von Bahrain-Victorious gesessen, am Tag darauf war sein Mannschaftskollege tot.
Der Schweizer war im Kanton Graubünden auf einer Abfahrt vom Albulapass zum Zielort La Punt in eine Schlucht gestürzt, lag beim Eintreffen der Rettungskräfte reglos im Wasser. Der schwer verletzte 26-Jährige musste wiederbelebt und in die Klinik nach Chur geflogen werden, wo er am folgenden Tag um 11.30 Uhr verstarb.
Radsport: Nikias Arndt startet bei der Tour de France
An diesem Sonnabend geht Nikias Arndt erstmals nach dem schweren Unfall wieder für Bahrain-Victorious an den Start – ausgerechnet beim wichtigsten Radrennens der Welt. „Ich fahre mit etwas gemischten Gefühlen zur Tour de France. Der Unfall war für Ginos Familie, unser Team und das gesamte Fahrerfeld sehr schwer“, sagt Arndt, der im Abendblatt erstmals öffentlich über das schwere Unglück spricht. In den Tagen nach dem Unfall hatte der 31 Jahre alte gebürtige Buchholzer in Absprache mit dem Team und Mäders Eltern noch sämtliche Anfragen abgeblockt.
„Ich habe nach dem Unfall sehr viel mit Ginos Mutter gesprochen. Wir hatten als Team das Gefühl, dass es der Familie sehr geholfen hat, viel Kontakt zu uns Fahrern zu haben, weil wir in den letzten Tagen den engsten Kontakt mit Gino hatten“, sagt Arndt.
Mäders Eltern Sandra und Andreas hatten das Team nach dem Unfall besucht, um sich auszutauschen. „Auch uns Fahrern haben die Gespräche mit den Eltern sehr gutgetan. Die Eltern waren einerseits geschockt, haben es andererseits aber schon geschafft, sich an das Gute zu erinnern“, sagt Arndt. „So haben wir es gemeinsam mit der Familie geschafft, eine gewisse Leichtigkeit bezüglich des Themas aufzubauen.“
Bahrain-Victorious reiste von der Tour de Suisse ab
Am Tag nach dem Unfall erinnerten Arndt und seine Teamkollegen gemeinsam mit den anderen Profis bei einer Gedenkfahrt an ihren Kollegen. Diese fand über die letzten 30 Kilometer der zuvor kurzfristig abgesagten sechsten Etappe statt. Radprofis unterschiedlicher Teams lagen sich in den Armen, trösteten sich. „Für uns stand schon früh fest, dass wir am Tag nach dem Unfall zwar auf dem Fahrrad sitzen, aber kein Rennen fahren werden. Dazu waren wir nicht in der Lage“, sagt Arndt.
Auf einer großen LED-Tafel stand „Gino, we ride for you“, als Mäders Teamkollegen Arm in Arm gemeinsam über die Ziellinie rollten. Statt „RideAsOne“ lautet das Teammotto von Bahrain-Victorious seit dem Unfall „RideForGino“ – fahren für Gino. „Das spiegelt wider, dass wir für ihn weiter Rennen fahren, dort kämpfen und seinen Traum weiterleben. Wir sind in Gedanken sehr eng bei ihm, richten den sportlichen Fokus aber in seinem Sinne nach vorne“, sagt Arndt. Dies sei auch der ausdrückliche Wunsch der Eltern gewesen, die sich unmittelbar nach dem Unfall zudem dafür eingesetzt hatten, die Tour de Suisse nicht abzubrechen.
Arndt führte Gespräche mit seiner Frau
Neben Bahrain-Victorious zogen sich dennoch der Schweizer Rennstall Tudor Pro Cycling, das belgische Team Intermarché-Circus-Wanty sowie 17 Fahrer aus weiteren Mannschaften von der Schweizer Rundfahrt zurück. „Es hat mir gutgetan, zu meiner Frau nach Köln zu kommen und mit ihr zu sprechen. Geholfen hat mir auch, mich zwei Tage später alleine auf das Fahrrad zu setzen und für ein paar Stunden einfach drauflos zu fahren. Da konnte ich die Gedanken am besten treiben lassen“, sagt Arndt. „Das Team bietet uns gute psychologische Unterstützung an.“
Auch weil die Staatsanwaltschaft und Kantonspolizei Graubünden noch immer zum Unfall ermitteln, will sich Arndt nicht zum genauen Hergang und möglichen Unfallgründen äußern. Weltmeister Remco Evenepoel hatte nach dem Unfall kritisiert, dass die riskante Abfahrt kurz vor dem Ziel in der Streckenplanung nicht nötig gewesen sei. „Aber man braucht offenbar immer noch mehr Spektakel. Es muss wohl einfach etwas passieren, damit man reagiert“, sagte der 23 Jahre alte Belgier.
Mäder war im Fahrerfeld sehr beliebt
Anstatt Schuldige zu suchen, will Arndt vielmehr seinen verstorbenen Teamkollegen würdigen, der einerseits als großes Talent galt, andererseits aber auch menschlich hervorstach. Mäder war im gesamten Fahrerfeld beliebt, spendete einen Teil seines Gehalts für den Erhalt der Schweizer Gletscher sowie gemeinnützige Zwecke – und träumte stets von einem Start bei der Tour de France.
Wäre er nicht gestürzt, hätte Mäder an diesem Sonnabend wahrscheinlich selbst erstmals am Grand Départ im spanischen Bilbao gestanden. „Wir werden in Zukunft für Gino fahren und seinen Traum weiterleben“, sagt Arndt.
Landa soll für Bahrain-Victorious auf das Podest fahren
Der 31-Jährige, der erst im Winter von seinem langjährigen Team DSM zu Bahrain-Victorious gewechselt war, soll in der 110. Ausgabe dreiwöchigen Frankreich-Rundfahrt in erster Linie den Spanier Mikel Landa (33) als Helfer unterstützen. Mit Landa erhofft sich das Team eine gute Platzierung im Gesamtklassement, den Sieg allerdings dürften zwei Superstars anderer Teams unter sich ausmachen.
Der Vorjahressieger Jonas Vingegaard (26/Dänemark) hat bei Jumbo-Visma zwar das stärkste Team zur Unterstützung, in Tadej Pogacar (24/Slowenien) vom Team UAE allerdings einen gefährlichen Konkurrenten. „Unter normalen Umständen machen die beiden das unter sich aus“, sagt Arndt. „Unser Ziel ist, hinter Vingegaard und Pogacar mit Mikel Landa auf das Podium zu kommen. Dafür müssen wir konstant durchkommen und täglich so wenig Zeit wie möglich zu verlieren.“
Arndt rechnet mit einer harten Tour de France
Angesichts von insgesamt 55.460 Höhenmetern und lediglich einem Zeitfahren rechnet Arndt mit einer „sehr harten“ Tour. „Die erste Woche nach dem Start in Bilbao wird schon sehr hart. Es gibt keinen Prolog und im weiteren Verlauf nur wenig Zeitfahrkilometer, um sich mal einen ruhigen Tag zu gönnen“, sagt er. „Meine Erfahrung hilft mir, meine Kraft gezielt einzusetzen. Ich weiß genau, wann es Sinn macht, zu investieren und wann ich mich auch mal zurückziehen kann.“
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Abgesehen vom Teamerfolg hofft Arndt weiterhin auch auf einen eigenen Etappensieg bei der Tour. Beim Giro d’Italia (2016) und der Vuelta a España (2019), den zwei anderen großen Landesrundfahrten, ist ihm dies bereits gelungen.
„Ein Etappensieg bei der Tour ist nach wie vor mein Ziel. Das wird allerdings nicht leichter, bei den mittelschweren Etappen gibt es in Wout van Aert, Mathieu van der Poel oder Magnus Cort Nielsen – um nur ein paar zu nennen – sehr starke Konkurrenz“, sagt Arndt. „Das heißt aber nicht, dass ich davor zurückschrecke.“
Wem er den Etappensieg widmen würde, wüsste er jedenfalls schon.