Mönchengladbach. Nach dem Halbfinalaus bei der Heim-EM in Mönchengladbach ziehen der Bundestrainer und die Spieler ein gemischtes Fazit.
Er versuchte erst gar nicht, irgendwie Stärke vorzutäuschen, wo keine mehr war. „Es ist eine Katastrophe. Dass ich es nicht geschafft habe, mein Team ins Finale zu bringen, zerreißt mir das Herz. Ich fühle mich schuldig, und das tut wahnsinnig weh“, sagte Mats Grambusch.
Während im Mönchengladbacher Hockeypark die Spieler der englischen Hockey-Nationalmannschaft mit ihren wenigen Fans den Einzug ins EM-Finale feierten, zeigte Deutschlands Kapitän in einer seiner schwärzesten Stunden Größe und nahm eine Niederlage auf sich, die er zwar hätte verhindern können, aber an deren Zustandekommen letztlich die ganze Mannschaft beteiligt war.
Hockey-EM: Grambusch tragische Figur
Zur tragischen Figur war der 30-Jährige von Rot-Weiß Köln am späten Freitagabend im Penaltyschießen geworden. Die Briten, die Ende Januar das WM-Viertelfinale gegen den späteren Weltmeister Deutschland ebenfalls im Shoot-out verloren hatten, waren offensichtlich bestens vorbereitet und ließen dem Kölner Torhüter Jean Danneberg diesmal mit unorthodoxen Schnellabschlüssen teils schon vom Kreisrand keine Abwehrchancen.
Doch weil auch die deutschen Schützen ihr Handwerk verstanden, trat Grambusch als fünfter Deutscher beim Stand von 4:5 in der Gewissheit an, bei einem Fehlschuss den Traum vom Finale bei der Heim-EM platzen zu sehen.
Für Grambusch, in Mönchengladbach geboren und beim Gladbacher HTC sportlich groß geworden, ist dieses Turnier eine besondere Herzensangelegenheit. All das mag ihm in den Kopf gekommen sein, als er sich von Englands für das Penaltyschießen eingewechseltem Schlussmann James Mazarelo zu weit nach links abdrängen ließ, um noch das Tor treffen zu können. Mazarelo blockte den Schuss ins Toraus – Deutschland war ausgeschieden.
Teamkollegen trösten Kapitän
„Statistisch ist es normal, dass von fünf Leuten einer verschießt. Heute war ich es, und das ist extrem bitter“, sagte Grambusch, der von seinen Teamkollegen sofort aufgefangen wurde. „Wir haben unsere fünf besten Schützen aufgeboten und sind dankbar, dass sie die Verantwortung übernommen haben“, sagte stellvertretend Abwehrchef Mathias Müller (31) vom Hamburger Polo Club.
Auch wenn der Kapitän in Sack und Asche ging – dass es überhaupt zum Penaltyschießen kam, hatte sich die Mannschaft von Bundestrainer André Henning selbst zuzuschreiben. Zu selten hatte sie offensiv Lösungen gefunden, um die harte englische Manndeckung auszuhebeln.
Torchancen aus dem Spiel heraus gab es kaum; dass der vermeintliche Führungstreffer des Mannheimers Justus Weigand (23) in Minute acht nach Videobeweis zurückgenommen wurde, weil in der Entstehung ein Freischlag an falscher Position ausgeführt worden war, ärgerte den Bundestrainer zwar („Das wird im internationalen Hockey normalerweise nie abgepfiffen“), war aber an der Grenze des Vertretbaren.
Eckenquote zu schwach
Wer aus dem Spiel heraus wenig kreiert, muss gegen einen so massierten Defensivverbund wie den der offensiv biederen Briten eben seine Standardsituationen nutzen. Doch auch da schwächelten die Deutschen, allen voran der für seine alte Heimat Argentinien zum weltbesten Eckenschützen herangereifte Gonzalo Peillat.
Sechs Strafecken des seit März 2022 für Deutschland spielenden Abwehrmannes fanden nicht ihr Ziel, weil die Engländer auch in der Vorbereitung darauf ihre Hausaufgaben erledigt hatten. Und so musste Mathias Müller konstatieren, „dass das 0:0 ein gerechtes Resultat war, weil es uns an der letzten Konsequenz gefehlt hat, wir das Spieltempo nicht hochgehalten und uns in Summe einfach zu wenige klare Chancen herausgespielt haben.“
Bundestrainer sieht keinen Rückschritt
Auf die Frage, ob ein Halbfinalaus bei der Kontinentalmeisterschaft für einen amtierenden Weltmeister mehr als nur ein aufs Ergebnis bezogener Rückschritt ist, fand Bundestrainer Henning eine klare Antwort. „Wir haben vor dem Turnier gesagt, dass die Top vier in Europa, die hier im Halbfinale standen, auf Augenhöhe sind. Deshalb sehe ich nicht, dass wir in unserer Entwicklung hier einen Rückschritt gemacht haben.“
Man kann dieser Argumentation folgen, wenn man den überraschenden WM-Triumph richtig einordnet. In Indien hatte Hennings Auswahl gegen die Engländer, die bei WM und Olympia als Großbritannien um die besten Spieler aus Wales und Schottland verstärkt antreten, noch drei Minuten vor Schluss 0:2 zurückgelegen, sich dank ihrer Comebackqualitäten ins Penaltyschießen gerettet und dort das Glück auf ihrer Seite gehabt.
Wellen traf nur einmal
Der Unterschied zwischen WM und EM trägt tatsächlich einen Namen: Niklas Wellen. In Indien traf der Krefelder siebenmal und war damit der Mann, der zwischen Teams auf Augenhöhe den Unterschied macht. In Mönchengladbach schoss der 28-Jährige bislang ein Tor in vier Partien.
Und weil auch die hoch veranlagten Angreifer Thies Prinz (25/RW Köln) und Timm Herzbruch (26/Mülheim) zu selten Weltklasseansprüchen genügten, fehlte es an Durchschlagskraft. Zudem wurden die Topstürmer Malte Hellwig (25/Mülheim), der wegen einer Muskelblessur ausfiel, und Christopher Rühr (29/Köln), der wegen seines Medizinstudiums pausierte, schmerzlich vermisst.
Schwächephasen in allen Gruppenspielen
In allen Gruppenspielen – 3:3 gegen Wales, 3:0 gegen die Niederlande, 4:1 gegen Frankreich – durchlief das Team Schwächephasen, die von Spitzengegnern bestraft werden. „Gerade was den Spielaufbau und die Konstanz angeht, nehmen wir einige Hausaufgaben mit“, sagte Henning.
Dennoch wollte der Bundestrainer seiner Mannschaft keine Vorwürfe machen. „Wir haben eine krasse Mentalität auf den Platz gebracht. Die Performance war an der Decke, viel mehr wäre nicht gegangen“, sagte der 39-Jährige im Hinblick darauf, dass ein Großteil seines Teams nach der WM in ein Motivationsloch gefallen war.
Gegen Belgien um Platz drei
Auch die im Vergleich zu allen anderen Topnationen nicht vorhandene Zentralisierung des Trainings, die dazu führe, „dass wir nicht so eingespielt sind und uns während des Turniers finden müssen“, führte der Coach als Erklärung dafür ins Feld, gegen Englands Defensive zu wenige spielerische Lösungen gefunden zu haben.
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Blieb noch die Frage nach der Zukunft. Die kurzfristige sieht an diesem Sonntag (12.30 Uhr) das Spiel um Platz drei gegen Olympiasieger Belgien vor, der im ersten Halbfinale den Niederlanden 2:3 unterlegen war. „Auch wenn dieses Spiel sportlich keine Bedeutung für uns hat und ich gerade noch nicht darüber nachdenken mag, werden wir alles reinhauen, um uns bei den Fans für die unglaubliche Unterstützung zu bedanken“, sagte Mats Grambusch.
Olympiaqualifikation Mitte Januar
Die mittelfristige Zukunft führt die Deutschen Mitte Januar zu einem der beiden Qualifikationsturniere für die Olympischen Sommerspiele 2024, da das direkte Paris-Ticket nur der Europameister löst, den am Sonntag (15 Uhr) nun England und die Niederlande ermitteln.
Als Reiseziel droht die Krisenregion Lahore in Pakistan, für die vom Auswärtigen Amt eine Reisewarnung besteht. Deshalb hofft man beim Deutschen Hockey-Bund innig, dass die ebenfalls im Halbfinale ausgeschiedenen Damen und die Herren gemeinsam in Valencia (Spanien) antreten dürfen.
Klarheit darüber herrscht spätestens Anfang November, wenn weltweit alle Kontinentalturniere gespielt sind. Mathias Müller hatte dazu aber schon am Freitagabend eine klare Meinung. „Wir werden uns qualifizieren, egal wo und gegen wen.“ Zumindest ihr Selbstbewusstsein haben die deutschen Hockeyherren nicht eingebüßt.