Hamburg. Der Topschwimmer spricht über sein Karriereende, über die deutschen Trainer, seine Sicht auf den Leistungssport und seine Pläne.

Doch, sagt Jacob Heidtmann, eine Sache gibt es, die er vermissen wird. „Dieser Moment, in dem es vor einem Wettkampf in der Halle komplett still ist, ehe alle ins Becken springen, dieses Gefühl kriegst du nirgendwo anders“, sagt er, und auf sein Gesicht legt sich dieses Leuchten, das viele Menschen erhellt, wenn sie von ihrer Leidenschaft erzählen.

Schwimmen auf Weltklasseniveau war viele Jahre lang Heidtmanns Passion. Nun aber hat der Mann, der an diesem Sonntag 28 Jahre alt wird, aus freien Stücken entschieden, auf diese Gänsehautmomente zu verzichten. In einem Alter, in dem der Abschied vom Leistungssport nicht zwingend erscheint. Um Antworten auf die Frage nach dem Warum zu geben und seine Karriere zu bilanzieren, hat er einem Gespräch mit dem Abendblatt bei Milchkaffee, Obst- und Gemüsesaft zugestimmt.

Jacob Heidtmann will "Start ins normale Leben schaffen"

Eins wird während des Interviews schnell deutlich. Jacob Heidtmann, der sich nie scheute, intern Meinungen zu äußern und harte Kritik zu üben, will auch nach seiner letzten Wende nicht öffentlich nachtreten. Auch wenn ihm Verbandspolitik und die oft mangelnde Bereitschaft vieler deutscher Trainer, sich im Austausch mit Kollegen im Ausland fortzubilden, oft übel aufstießen, sucht er die Begründung für seinen in der Schwimmszene international viel beachteten Schritt nicht bei anderen Menschen. „Ich möchte einfach jetzt den Start ins normale Leben schaffen. Da ist für Hochleistungssport leider kein Platz mehr.“

Wie viel Platz der gebürtige Pinneberger, der bis zuletzt für das Swim-Team Stadtwerke Elmshorn ins Becken sprang, seinem Sport einräumte, ist nur zu ermessen, wenn man um seine Sozialisation weiß. Seine fünf Geschwister hatten allesamt keine leistungssportlichen Ambitionen, sie begannen nach der Schule mit dem Studium, lebten ein Leben, das auch Jacob Heidtmann gefallen hätte.

Heidtmann war nie der Klischee-Topathlet

Dennoch bestärkte die Familie ihn stets darin, sein Talent nicht zu verschleudern, sondern seine Leidenschaft zu forcieren. „Ich hätte in der Jugend nie gedacht, dass ich es mal zu Olympia bringen könnte, umso überraschter war ich, wie schnell sich die Dinge entwickelten“, sagt er. Vielmehr habe er einen Hang zur Faulheit, den er bis heute manchmal auslebe.

Irgendwann im Teenageralter setzte die Erkenntnis ein, mit viel Fleiß Besonderes schaffen zu können. „Ich habe gespürt, dass ich mich an meine Grenzen und darüber hinaus pushen kann, und das hat mich angespornt.“ Dennoch war Heidtmann nie der Klischee-Topathlet, der seinem Sport alles unterordnete, nicht weiter dachte als bis zum Beckenrand.

Heidtmann wurde disqualifiziert

Die Option des Aufhörens habe ihn stets beschäftigt; schon 2016, vor seiner ersten Olympiateilnahme in Brasilien, habe er geplant, im Fall eines Finalstarts abzutreten. Dann jedoch wurde er in Rio de Janeiro als Vorlauffünfter über seine Paradestrecke 400 Meter Lagen wegen eines verbotenen zweiten Delfinkicks bei einer Wende disqualifiziert. Es war das Trauma seiner Karriere, das er erst vergangenes Jahr mit der erfolgreichen Teilnahme an den Sommerspielen von Tokio endgültig verarbeitete.

Sich immer wieder aufs Neue zu fragen, ob der eingeschlagene Weg der richtige ist, habe ihm auch im Alltag geholfen, wich­tige Entscheidungen zu treffen. Rückblickend bereue er nichts, auch nicht, den Schritt in die USA nicht schon 2016 gegangen zu sein. Das Angebot, ein College-Stipendium zu nutzen, hatte er abgelehnt, weil er gern bei der Familie und den Freunden in Hamburg bleiben wollte.

„Außerdem wollte ich wieder in Hamburg leben“

Dass er die vielleicht besten Jahre seiner Karriere während der Pandemie in San Diego beim renommierten Spitzencoach Dave Marsh verbrachte, wo er auf allen Lagen mit Weltklasseathleten trainieren konnte, wertet er als Bereicherung, anstatt sich zu fragen, was wohl aus ihm hätte werden können, wenn er bereits vier Jahre früher über den Atlantik gewechselt wäre.

Dort drei weitere Jahre zu trainieren, um es 2024 in Paris noch mal zu Olympia zu schaffen, sei allein aus finanziellen Gründen keine Option gewesen. 2300 US-Dollar pro Monat musste Heidtmann in Kalifornien persönlich dazuzahlen. „Außerdem wollte ich wieder in Hamburg leben“, sagt er. Deshalb habe er auch einen Wechsel an den Bundesstützpunkt Magdeburg, „den einzigen Standort, den ich mir in Deutschland hätte vorstellen können“, letztlich ausgeschlagen.

Entscheidung für das Karriereende fiel nicht schwer

Die Entscheidung für das Karriereende sei ihm nicht schwergefallen. „Ich bin kein Mensch, der mit seinen Entschlüssen hadert. Man muss aus der Vergangenheit lernen, aber Dinge auch abschließen und nach vorn schauen.“ Wer zurückschaut auf Heidtmanns sportliches Wirken, der sieht vor allem seinen bei der WM 2015 in Kasan (Russland) aufgestellten deutschen Rekord über 400 Meter Lagen (4:12,08 Minuten), mit dem er Fünfter wurde, den EM-Titel 2018 in Glasgow mit der 4 x 200-Meter-Freistil-Mixedstaffel, drei WM-Finalteilnahmen und den olympischen Staffelendlauf in Tokio.

„Als Leistungssportler hat man immer die Einstellung, dass noch mehr geht. Ein olympisches Einzelfinale hätte ich schon gern erreicht. Aber ich bin zu 100 Prozent zufrieden mit dem, was ich geschafft habe“, sagt er.

Jacob Heidtmann freut sich auf das normale Leben

Wie es weitergeht mit dem Menschen Jacob Heidtmann, scheint vorgezeichnet. Sein Studium der Sozialökonomie will er nach zwei weiteren Semestern abschließen, Bewerbungsgespräche für die Zeit danach führte er bereits.

„Ich freue mich darauf, mich ins normale Leben hineinzutasten. In einer Vorlesung zu sitzen, nicht darüber nachzudenken, wann das nächste Training ansteht, wann ich davor essen und schlafen kann, das entspannt.“ Auf Auswärtsfahrten mit seinem FC St. Pauli mehr als ein Alsterwasser trinken zu können, ohne besorgte Blicke seiner Kumpels zu riskieren, auch darauf freue er sich.

Der Deutsche Schwimmverband würde Heidtmann gern im System halten

Wie es mit dem Sportler Jacob Heidtmann weitergeht, bleibt abzuwarten. Bundestrainer Bernd Berkhahn, sein Entdecker, hat ihm angeboten, dem Verband erhalten zu bleiben. „Das kann ich mir sehr gut vorstellen, denn ich habe über die Jahre so viel Wissen angehäuft, dass es schade wäre, wenn das einfach so versickern würde“, sagt er. Es müsse jedoch ein Posten sein, auf dem er etwas bewegen könne, und die Offerte müsse vom Verband kommen. Heidtmann ist überzeugt davon, in Deutschland mehr herausholen zu können, als es in den vergangenen Jahren gelang.

„Die Infrastruktur ist super, die Ausstattung des Schwimm-Stützpunktes in Hamburg sucht weltweit seinesgleichen, mit Bundeswehr, Bundespolizei, der Sporthilfe gibt es auch gute Finanzierungsmöglichkeiten“, sagt der ehemalige Sportsoldat, der im September aus dem Dienst ausschied, aber bis zum Jahresende Übergangsgeld erhält.

Jacob Heidtmann schwimmt in der Kaifu-Lodge

Als Athletensprecher hatte er sich mehrere Jahre für die Gemeinschaft eingebracht. „Da musst du aber Diplomat sein, weil man für alle sprechen muss. Etwas zu machen, bei dem ich meine Ideen umsetzen kann, wäre mir wichtig.“ Ideen hätte er einige. Die Anerkennung für den Leistungssport in der Gesellschaft zu erhöhen, wäre eine. Etwas angestaubte Veranstaltungen wie den Weltcup in ihrer Darstellung an die Event-Anforderungen der heutigen Zeit anzupassen, eine andere. Machen, anstatt zu meckern, das Positive herausstreichen, wo viele nur das Negative sehen – so stellt sich Jacob Heidtmann sein künftiges Wirken vor.

Bewegung bleibt für den 1,95-Meter-Hünen, der sich selbst als hyperaktiv beschreibt, allerdings ein zentrales Element. Dreimal pro Woche schwimmt er in der Eimsbütteler Kaifu-Lodge. Und wenn auch das Training nur zu einem Bruchteil die Intensität früherer Tage erreicht, empfindet er es als Vergnügen. Fünfmal pro Woche Kraft- und Boxtraining kommen dazu, außerdem spielt er gern Tischtennis. „Ich brauche es einfach, mich zu messen“, sagt er. Der Wettkampf, den er vermisst, ist durch nichts zu ersetzen. Aber Jacob Heidtmann wird neue Dinge finden, die sein Gesicht zum Leuchten bringen.