Hamburg. Abenteurer Jonas Deichmann schwamm 456 Kilometer durch das Meer – und hatte gerade einmal das Seepferdchen. Seine Geschichte.
Wer keine Probleme hat, besorgt sie sich eben. „Mit einem Team um die Welt? Nee. Wo bleiben sonst die Erlebnisse, wenn es ein Problem gibt und das Team es löst?“ Jonas Deichmann ist Problembeschaffer und Problembeseitiger in eigener Sache. Extremsportler lautet die offizielle Bezeichnung für ihn. Welttriathlet geht auch. „Selbstständiger Abenteurer“, sagt der 35-Jährige, der an diesem Sonnabend (19.30 Uhr) im kleinen Saal der Laeiszhalle von seinem größten Erlebnis erzählt.
Aber von Anfang an: Die erste Erinnerung an seine Kindheit führt Deichmann auf einen Berg. „Ich weiß gar nicht genau, auf welchen, aber es war ganz oben.“ Und draußen. Natur, Wildnis, Freiheit – Lebenselixier für den gebürtigen Stuttgarter. Schon sein Großvater segelte um die Welt, arbeitete als Schlangenfänger in Afrika. Als der kleine Jonas mit sechs Jahren mit Opa in den afrikanischen Busch darf und sogar eine ausgewachsene Schlange um den Hals trägt, war für Deichmann klar: Er will Abenteurer werden. Und er wurde: Software-Vertriebler. Die Spannung des Jobs springt förmlich aus dem Papier.
Unglaubliche Reise: Deichmann kündigt seinen Job
Also justiert Deichmann, der als Jugendlicher Radrennen gefahren ist, um. Er kündigt, hat nun „viel Zeit und wenig Geld“ – und macht, was Leute mit viel Zeit und wenig Geld machen, um von A nach B zu kommen: Radfahren. Nur, dass A bei ihm die portugiesische Atlantikküste und B Wladiwostok ist. „Dazu brauchte ich eine Herausforderung“, sagt er, nimmt sich also die schnellste Eurasienquerung vor – und schafft sie binnen 64 Tagen so selbstredend wie den Langstrecken-Weltrekord der Panamerika.
Schlappe 23.000 Kilometer von Alaska bis Feuerland in 97 Tagen. Als ehemaliger Student der Betriebswirtschaftslehre weiß der Schwabe Kapital daraus zu schlagen, vermarktet sich gekonnt und hält Motivationsvorträge.
Deichmann hatte gerade einmal das Seepferdchen
Nun hat Deichmann viel Zeit und viel Geld. Mittlerweile lebt er in Solothurn im Schweizer Jura. Dennoch zieht es ihn weiter hinaus. Immer in Bewegung bleiben. Auf 350 Sporttage im Jahr schätzt Deichmann sein Pensum. Von einem Trainingsplan hat er mal etwas gehört, macht aber nur, was ihm Spaß macht. Zum Termin mit dem Abendblatt auf St. Pauli erscheint der Spitzenathlet in Shirt und Shorts, er sei gerade eineinhalb Stunden um die Alster und durch die Speicherstadt gelaufen, entschuldigt er sich. „Schöne Ecken habt ihr hier in Hamburg, und viel Wasser.“
Ein Element, das Deichmann lange fremd war. „Ich hatte nur das Seepferdchen. Aber wenn ich die Welt mal wieder umrunden will, dann auch richtig“, sagt er über den für ihn gar nicht so wahnwitzigen Plan, einen Triathlon um den Erdball zu absolvieren. Also bricht er am 26. September 2020 in München auf. Als Aufwärmetappe radelt Deichmann über die Alpen bis an die kroatische Adriaküste. Dort wird das Radtrikot gegen einen Neoprenanzug getauscht, und das bislang größte Abenteuer beginnt. 456 Kilometer durchs Meer. Muss man erwähnen, dass es die längste Freiwasserstrecke ist, die am Stück je von einem Menschen geschwommen wurde? Gelegentlich kann er auf einer Insel pausieren. Sonst geht es nur des Nachts an Land. Seine Ausrüstung zieht Deichmann per Floß hinter sich her.
„Ich esse, was ich finde"
„Im Wasser hat mich ein mulmiges Gefühl beschlichen, sehr unangenehm.“ Und lebensgefährlich. Das Salzwasser brennt offene Wunden in die Haut. Neun Kilometer treibt Deichmann eines Tages im offenen Meer, eines anderen schafft er es erst nach Einbruch der Dunkelheit ans Ufer. Mindestens jeden zweiten Tag muss er an einem Ort vorbeikommen, um sich zu verpflegen. 6000 bis 7000 Kalorien täglich. Ernährungspläne sind ihm so fremd wie Trainingspläne „Ich esse, was ich finde, Hauptsache viel“, sagt er und könnte direkt einen Werbedeal mit Snickers einfädeln.
Als er nach 54 Tagen in Dubrovnik endgültig an Land geht, soll es diesmal wirklich endgültig sein. Von Erlebnissen im Wasser hat selbst ein Jonas Deichmann nach diesen Erfahrungen die vom Vollbart umhüllte Nase gestrichen voll. Gelohnt habe es sich dennoch. „Im Wasser hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Über meine Zukunft, die kommende Essenspause und meine nächsten Dummheiten.“
„Der Körper passt sich der Belastung an"
Mit den Plänen im Gepäck steigt Deichmann aufs Rad, durchquert halb Osteuropa, die Ukraine und Russland. Auf dem Weg fegt ihn eine Lebensvermittelvergiftung fast vom Rad. Aber eben nur fast. Als Genesungskur wird ein Erholungstag eingelegt – mit lediglich 35 Kilometern. „Sobald man auf dem Fahrrad sitzt, geht es wieder“, meint Deichmann. Und überhaupt: „Der Körper passt sich der Belastung an. Ich erhole mich beim Laufen und Fahren. Nach 120 Marathons habe ich mich fitter gefühlt als nach einem.“ Sechs bis sieben Stunden Schlaf pro Nacht genügen dem Ultraausdauerathleten, der für Forschungszwecke an einer Erholungsstudie der Berliner Charité teilnimmt – bislang ohne Auffälligkeiten.
Wie sich Deichmann Tag für Tag motiviert, bleibt sein Geheimnis. Sicher, ein Schneesturm im bis zu minus 40 Grad Celsius eisigen Sibirien sei der Lust nicht zuträglich, „aber die Vorstellung davon ist schlimmer als die Realität“. Es ist einsam um Deichmann. Musik helfe, dazu viele, viele Gedanken über alles und nichts. Privat hat er einen engen Zirkel an Freunden und Verwandten. Sein Vater Sammy kümmert sich ums Management, eine Partnerin passt nicht in die Abenteurer-Lebenswirklichkeit.
Hin und wieder begleitet ihn ein Kamerateam
Und doch ist der Deutsche nicht allein. Beim Welttriathlon begleitet ihn hin und wieder ein Kamerateam um den Regisseur Markus Weinberg. Der eindrucksvolle Dokumentarfilm „Das Limit bin nur ich“, unter anderem aufgeführt im Hamburger Zeise-Kino, entsteht daraus. Ein gleichnamiges Buch gibt es ebenfalls. Dazu die vielen Menschen, denen Deichmann auf seiner Reise begegnet. Und jemand, dessen Leben er verändert.
9000 Kilometer Luftlinie liegen noch zwischen den beiden, als Deichmann mal wieder in Wladiwostok ankommt. Eigentlich wollte er von hier CO2-neutral mit dem Segelboot nach Mexiko übersetzen. Die Corona-Pandemie lässt allerdings nur einen Flug nach Tijuana zu. Von der alles andere als einladenden, dafür umso kriminelleren Stadt an der Pazifikküste aus hatte Deichmann 120 Marathons in 117 Tagen bis an den Atlantik geplant.
Ein Hündin begleitet den Abenteurer 130 Kilometer
Kurz nach dem Aufgalopp trifft er sie: La Coqueta. Eine Hündin, so allein, so fit wie Deichmann. 130 Kilometer begleitet der Vier- den Zweibeiner. Als der online nach jemandem sucht, der die Hündin adoptiert, wird die Öffentlichkeit auf das ungleiche Duo aufmerksam. Das Fernsehen berichtet über den „deutschen Forrest Gump“, der passenderweise mit einer Basecap mit dem Schriftzug der „Bubba Gump Shrimp Company“ durch Nordamerika läuft. Ihm werden Titelseiten in den Tageszeitungen gewidmet, Menschen schließen sich ihm zum gemeinsamen Laufen an. Und auch La Coqueta findet ihr Zuhause, wird im Ort ihrer neuen Herrchen per Heldenempfang begrüßt, zur Ehrenhündin ernannt.
Deichmann rennt weiter. Weiter Richtung seines Zuhauses im fernen Europa. Die TV-Kameras begleiten ihn, sogar per Liveschalte aus dem Helikopter. Irgendwann kommen eine Polizeieskorte sowie ein Großaufgebot der Nationalgarde hinzu. „Das Limit bin nur ich“, aber das Limit an Aufmerksamkeit war für Deichmann bald erreicht. Leute pilgern zu seinem Zelt, bitten um Autogramme.
„Die Kartelle sind dem Sport sehr positiv zugewandt"
Also stellt Deichmann seinen Livetracker zeitweise aus. Irgendwann ist er wieder ganz allein. Auf dem Weg einen Hügel hinauf, als er Motorräder hinter sich hört. Die Maschinen überholen ihn, stoppen ab, und von den Gefährten steigen zwei Männer mit Maschinengewehren. Mitglieder eines berüchtigten Kartells. Jungs, die keine Gefangenen machen. Sie schießen. Ein Selfie. „Die Kartelle sind dem Sport sehr positiv zugewandt und waren offenbar Fans von mir“, sagt Deichmann und schmunzelt in seinen Bart.
Mexiko wolle er, ebenso wie Peru und Kolumbien, in jedem Fall noch einmal bereisen. Wenngleich es ihn elf Paar Laufschuhe und zehn Kilogramm kostete. Dort habe er das pure Glück gefühlt. „Jeder Tag war ein Erlebnis. Ich fühle mich lebendig, wenn ich unterwegs bin.“
Nächste Weltumrundung schon geplant
Die finalen Etappen zurück nach München legt Deichmann noch einmal per Rad zurück. Die 120-fache Ironman-Distanz liegt am 29. November 2021, 14 Monate, 430 Tage, 455 geschwommene, 21.000 geradelte und 5000 gelaufene Kilometer nach Start seiner Reise hinter ihm.
Seitdem hat Deichmann wieder viel Zeit. Und benötigt wieder Probleme. Mit seinen Vorträgen und Filmvorstellungen ist er gut beschäftigt. „Der Film ist richtig gut geworden, da bekomme ich direkt Lust, gleich wieder loszureisen.“ Mit den konkreten Planungen fürs nächste Abenteuer befasst sich Deichmann, der inzwischen auch mit dem Paragliden begonnen hat, natürlich längst. Die seien weit gediehen. Was genau er vorhat, darf noch nicht verraten werden. Nur so viel: „Ende 2023 wird die nächste Weltumrundung starten. Auf eine neue Art und Weise, wie es sie noch nie gegeben hat.“ Was auch sonst?
Unglaubliche Reise: Deichmann setzt sich für Umweltschutz ein
Aber es gibt auch Probleme, die selbst Deichmann nicht auf eigene Faust lösen kann. Stichworte: Klimawandel und Umweltverschmutzung. „Da ich ständig in der Natur bin, sehe ich die Veränderungen überall“, so der Wahl-Schweizer. Und Müll, überall Müll. Beim Schwimmen an der Adria entdeckt er sogar einen Kühlschrank am Meeresgrund. Armut wegen Dürreperioden und Wassermangel machen jemanden, der die Natur sein Zuhause nennt, „sehr traurig“ – und geben ihm den Auftrag, etwas zu unternehmen. Daher arbeitet Deichmann eng mit Organisationen, die sich dem Umweltschutz verschrieben haben, zusammen.
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Seine enorme Reichweite kann einiges bewirken. Auf Akquisetour für Sponsoren muss Deichmann schon seit Langem nicht mehr gehen. Die Partner kommen auf ihn zu. Sie können sich auf ein langfristiges Engagement einstellen, denn Deichmann hat gerade erst so richtig angefangen mit dem Hochleistungssport. „Diese extremen Langdistanzen kann ich sicher bewältigen, bis ich 50 Jahre bin“, sagt er. Danach müsse er eine andere Art der Abenteuer finden. Zukunftsmusik. Zuvor stehen der Südpol, die Mongolei und der Himalaja auf der Liste der Reiseziele ganz oben. Im Sommer ging es per Fahrrad durch Lappland. Immer auf der Suche nach neuen Problemen.