Hamburg. Vor 50 Jahren gewann der Faustkämpfer in München als bislang einziger Hamburger Olympiagold im Boxen. Seine Tochter erinnert sich.
Es sind die Tränen ihres Vaters, die auch sie zum Weinen bringen. Alexandra Kottysch hatte gehofft, dass ihre Gefühle sie nicht übermannen würden, schließlich ist sie zum Gespräch in die Abendblatt-Redaktion gekommen, um den schönsten Moment im Leben ihres Vaters ein letztes Mal für die Öffentlichkeit Revue passieren zu lassen.
Doch auf die Frage, welches Bild ihr im Gedenken an den 10. September 1972 als erstes in den Kopf kommt, schießen ihr die Tränen in die Augen. „Das Bild, wie Papa bei der Nationalhymne zu weinen anfängt“, sagt sie, „diese Reaktion sagt alles darüber, was ihm dieser Olympiasieg bedeutet hat.“
Dieter Kottysch, geboren am 30. Juni 1943 im oberschlesischen Gleiwitz und gestorben am 9. April 2017 in einem Pflegeheim im Hamburger Osten unter erbärmlichen Umständen, die aktuell Gegenstand eines juristischen Verfahrens gegen die Einrichtung sind, hat Hamburger Sportgeschichte geschrieben. Als bisher einzigem Sohn dieser Stadt gelang dem damals 29-Jährigen vom BC Sportmann bei den Sommerspielen 1972 in München ein Olympiasieg im Boxen. Sein Finalerfolg im Halbmittelgewicht, das damals die Gewichtsklasse bis 72 Kilogramm darstellte, gegen den Polen Wieslaw Rudkowski jährt sich an diesem Sonnabend zum 50. Mal. Und weil niemand so häufig seine Erzählungen über diesen Tag gehört hat wie seine Tochter, könnte niemand besser einschätzen, wie dieses Gold das Leben ihres Vaters beeinflusst hat.
Tochter erlebte Olympiasieg von Dieter Kottysch hautnah mit
„Es war ohne Zweifel der größte Tag in seinem Leben. Auch wenn ihm außer der Medaille und der Ehre nichts davon geblieben war, hat er jedem davon erzählt“, sagt Alexandra Kottysch. Die 55-Jährige ist eine resolute Frau, der die Achterbahnfahrt des Lebens viele Nackenschläge verpasste, die aber den Tod ihres Vaters nach vielen Monaten des Trauerns mittlerweile gut verarbeitet hat und die dankbar dafür ist, den Olympiasieg und alles, was danach folgte, miterlebt zu haben. „Es hat auch mein Leben geprägt. Auch wenn es nicht immer einfach war, war ich immer stolz, seinen Nachnamen zu tragen“, sagt sie.
Es gibt dieses Bild, das um die Welt ging, von der kleinen Alexandra, wie sie nach dem Finale an der Hand ihres Vaters durch den Boxring springt. Den Kampf selbst hatte die Fünfjährige auf dem Schoß ihrer Mutter Gitta verfolgt, sie war zunächst eingeschlafen. Doch als um 22.08 Uhr das Urteil – ein 3:2-Punktsieg zugunsten ihres Vaters – feststand und der Jubelorkan losbrach, war sie hellwach. „Plötzlich wurde ich von hinten gepackt und von einer Frau in den Ring gehoben. Es war nicht meine Mutter, wir haben leider nie herausgefunden, wer die Dame war“, sagt sie. Im Seilgeviert rannte sie zunächst zu Rudkowski, dem Gegner ihres Vaters, der abseits des Rings sein Freund war. „Er hatte uns in Hamburg besucht, ich kannte ihn also, hatte ihn lange nicht gesehen und wollte ihn begrüßen“, sagt Alexandra Kottysch, die dann doch schnell an der Hand ihres Vaters landete.
Viel mehr an aktiver Erinnerung ist ihr nicht geblieben. Die großen Fahnen, die für die Medaillengewinner gehisst wurden, hätten sie beeindruckt. Auch das Geräusch der Hubschrauber, die seit dem Attentat palästinensischer Terroristen auf die israelische Olympiamannschaft fünf Tage zuvor über dem Olympiagelände kreisten, habe sie noch im Ohr. „Papa hat früher oft gesagt, wie glücklich er gewesen sei, dass die Spiele nach dem Attentat nicht abgebrochen wurden, sonst hätte er nicht Olympiasieger werden können.“
Ob diese Goldmedaille nur ein Segen war oder doch auch Fluch? Alexandra Kottysch, die Frau der klaren Worte, tut sich schwer mit einer klaren Antwort darauf. Ihr Vater, der seine Sportkarriere nach dem Olympiasieg trotz Angeboten aus dem Profilager beendete, weil er der Ansicht war, dass es besser nicht werden könne, sei immer bodenständig geblieben; ein Fakt, den auch viele Wegbegleiter von einst bestätigen. Am meisten habe er sich gefreut, wenn Menschen ihn erkannten und um ein Autogramm baten. „Er hat nicht einfach nur seinen Namen hingekritzelt, sondern immer eine persönliche Widmung dazugeschrieben. So lange es ging, hat er seine Fanpost selbst erledigt, das war ihm extrem wichtig“, sagt sie.
Alexandra Kottysch stand dem dementen Vater bei
Dennoch sei die Zeit auch oft hart gewesen. Die Eltern trennten sich, als die Tochter elf Jahre alt war. Sie zog zu ihrem Vater, ihr drei Jahre jüngerer Bruder Frank blieb bei der Mutter, die neu heiratete und nur zwei Monate nach dem Tod Dieter Kottyschs ebenfalls verstarb. Das Familienleben litt, die Beziehung zur Mutter und zum Bruder war zeitweilig abgebrochen. „Aber ich will betonen, dass Papa stets die Hand über mich gehalten, mich nie im Stich gelassen hat“, sagt die Tochter, die Sturkopf und Geradlinigkeit von ihrem Vater geerbt hat. Als sich zum Renteneintritt 2006 – ihr Vater hatte zuletzt als Technischer Zeichner bei den Stadtwerken seiner Heimat Buchholz in der Nordheide gearbeitet – die Demenz erstmals bemerkbar machte, war sie fortan an seiner Seite.
Bis heute hat sie den Kampf um die Aufarbeitung seines qualvollen Todes nicht aufgegeben. Dennoch ist ihr Wunsch, endlich loslassen zu können, und das Jubiläum zum 50. Jahrestag des Olympiasiegs hat sie als guten Anlass dafür ausgeguckt. Wie sie den Tag gestalten werde, hat sie noch nicht entschieden. Sie wird sich bei NDR 90,3 das Lied „Wer nie verliert, hat den Sieg nicht verdient“ von Udo Jürgens wünschen, das ihr Vater so liebte. Wahrscheinlich will sie zum Grab ihres Vaters am Schiffbeker Weg fahren. Es ist in Hamburg außer der „Ritze“ auf der Reeperbahn, wo Dieter Kottysch, den das Rotlicht anzog, ein und aus ging, der einzige Ort, an dem die Erinnerung an den einzigen Box-Olympiasieger lebt.
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Alexandra Kottysch hat mehrfach versucht, mit der Hamburger Politik wegen einer Gedenkstätte für verdiente Sportlerinnen und Sportler der Stadt ins Gespräch zu kommen; gelungen ist es ihr nie. Die Kritik daran, dass Hamburg mit seinen Topsportlern nicht besonders pfleglich umgeht, teilt sie deshalb. Die Goldmedaille hat ihr 24 Jahre alter Sohn in Verwahrung genommen, der beim Gespräch dabei ist, wegen schlechter Erfahrungen aber namentlich nicht genannt werden möchte. Der Enkel war Dieter Kottyschs ganzer Stolz, „ihn aufwachsen zu sehen hätte ihn so sehr gefreut“, sagt die Mutter.
Alle anderen Erinnerungsstücke, die zehn Kisten füllten, hat sie Anfang vergangenen Jahres dem Sammler Frank Scheffka übergeben, der in Delmenhorst ein privates Olympiamuseum führt. Dort lebt die Erinnerung an Dieter Kottysch weiter; den Mann, der als Folge seiner 280 Amateurboxkämpfe alles vergessen hatte, was er erreicht hat in seiner Karriere, aber der niemals vergessen sein wird.