Norderstedt. Der Fotograf stand 1972 bei der Trauerfeier neben dem IOC-Präsidenten. Der entscheidende Satz hat sein Leben bis heute geprägt.

Am 6. September 1972, einen Tag nach dem Anschlag der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September auf die israelische Mannschaft bei den Olympischen Spielen, verkündete IOC-Präsident Avery Brundage im Münchener Olympia-Stadion: „The games must go on!“ Ein Satz und eine Szene, die sich in das Gedächtnis der Menschen geprägt hat. Einer, der die Trauerrede unmittelbar erlebt hat, ist Hans-Günter Kiesel aus Norderstedt.

Als Fotograf des Hamburger Abendblatts stand er nur wenige Meter neben Brundage und machte Fotos für die Ewigkeit. Wer diese Szene erlebt hat - ob live im Stadion oder zuhause am Bildschirm - hat sie nicht vergessen und wird sie vermutlich für immer in Erinnerung behalten. Avery Brundage, der damalige Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), sagte diesen Satz bei der Trauerfeier für die am Tag zuvor getöteten elf Mitglieder der israelischen Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1972.

Hans-Günter Kiesel machte mit einer besonderen Kamera Farbfotos

Der damals 31 Jahre alte Fotograf Hans-Günter Kiesel fotografierte 1972 mit der Linhof Technika Press 70 bei den Olympischen Spielen in München.
Der damals 31 Jahre alte Fotograf Hans-Günter Kiesel fotografierte 1972 mit der Linhof Technika Press 70 bei den Olympischen Spielen in München. © Heike Kiesel

Der Pressefotograf aus Norderstedt war 1972 zusammen mit seinem Kollegen Gunnar Brumshagen nach München geschickt worden, um dort für das Hamburger Abendblatt zu fotografieren. Dabei hatte der heute 81 Jahre alte Hans-Günter Kiesel einen ganz besonderen Auftrag: Er sollte das Abendblatt mit Farbfotos versorgen. Heute eine Selbstverständlichkeit, damals jedoch ein kleines Abenteuer: Die Tageszeitungen druckten fast ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotos.

Deshalb war ein erheblicher Aufwand nötig, um das zu bewerkstelligen. Hans-Günter Kiesel, der bis dahin nur wenige Sportveranstaltungen fotografiert hatte, wurde mit einer ganz besonderen Kamera ausgestattet: Die Linhof Technika Press 70 lieferte Fotos im Format 56x72 Millimeter. Eine erstklassige Kamera für einen besonderen Anlass.

Zunächst wurde der Fotograf ins Krankenhaus eingewiesen

Es waren Olympische Spiele, die sich auf tragische Weise in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingeprägt haben. Für den Norderstedter Abendblattfotografen waren die Spiele von München auch auf eine andere Weise tragisch. Teilweise zumindest. Denn zwei Tage nach der Eröffnungsfeier am 25. August, die er noch fotografisch begleitet hatte, wurde Hans-Günter Kiesel von den Ärzten, die sich um die 4500 akkreditierten Journalisten kümmern sollten, ins Krankenhaus eingewiesen. Eine plötzlich auftretende Angina zwang ihn zu einer unfreiwilligen Pause.

Flankiert von Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann (rechts unten) spricht IOC-Präsident Avery Brundage (USA) am 6. September1972 im Münchner Olympiastadion auf der Trauerfeier für die Opfer des Terroranschlages auf die israelische Olympiamannschaft bei den Olympischen Sommerspielen. Er entschied: „The games must go on.“
Flankiert von Bundespräsident Dr. Gustav Heinemann (rechts unten) spricht IOC-Präsident Avery Brundage (USA) am 6. September1972 im Münchner Olympiastadion auf der Trauerfeier für die Opfer des Terroranschlages auf die israelische Olympiamannschaft bei den Olympischen Sommerspielen. Er entschied: „The games must go on.“ © dpa | Heidtmann

Während die Athleten um Medaillen kämpften, konnte der Norderstedter die Spiele zunächst nur vom Krankenhausbett verfolgen. Für Ehefrau Heike war der Krankenhausaufenthalt ihres Mannes Anlass, nach München zu reisen, um ihren Mann zu besuchen. Es war ärgerlich, aber letztlich halb so schlimm: Am 5. September, dem Tag des Attentats, durfte Hans-Günter Kiesel wieder arbeiten.

Der gesamte Bereich des Attentats war abgesperrt, die Unruhe war groß

„Es herrschte damals überall eine große Unruhe“, erinnert er sich. Vom Attentat selbst,, bei dem elf israelische Athleten zunächst als Geiseln genommen und dann ermordet wurden, hat er nichts mitbekommen. Wie alle anderen auch konnte er nur die Berichterstattung im Fernsehen verfolgen. „Der gesamte Bereich war abgesperrt.“

Als am nächsten Tag die Trauerfeier im Münchener Olympiastadion stattfand, postierte sich Hans-Günter Kiesel in unmittelbarer Nähe des Rednerpults, an dem unter anderen auch Bundespräsident Gustav Heinemann stand und eine Rede hielt. „Ich glaube, ich war gerade mal fünf Meter entfernt“, erinnert er sich- „Wir sind alle davon ausgegangen, dass die Spiele abgebrochen werden.“ Ob es richtig war, die Spiele fortzusetzen, ist bis heute umstritten

Die Farbfilme wurden per Express von München nach Hamburg geschickt

Wie jeder weiß, kam es anders. IOC-Präsident Brundage verkündete in seiner kurzen Ansprache, die Spiele sollen weiterlaufen. Hans-Günter Kiesel drückte auf den Auslöser und schickte seinen Film per Express nach Hamburg in die Redaktion des Hamburger Abendblatts, wo er entwickelt wurde.

Zwar hatte das Abendblatt ein eigenes Fotolabor in München, die Farbfilme der großen Linhof-Kamera konnten dort aber nicht entwickelt werden. In der Sportredaktion war mit Hermann Rüping ein weiterer Norderstedter als stellvertretender Ressortleiter tätig. Hans-Eckart Jaeger aus Henstedt-Ulzburg war erst vier Monate zuvor als Sportredakteur eingestellt worden.

Hans-Günter Kiesel fotografierte den Hamburger Box-Olympiasieger Dieter Kottysch

Danach ging es für den Norderstedter routinemäßig weiter. Er erinnert sich noch, dass er den Olympiasieg des Hamburger Boxers Dieter Kottysch mit seiner Kamera festgehalten hat.

Für Hans-Günter Kiesel hat der geschichtsträchtige Satz des IOC-Präsidenten eine ganz besondere Bedeutung: „Er ist ein Leitspruch für mein ganzes bisheriges Leben geblieben.“ Gib niemals auf, kapituliere nicht vor dem Bösen.

Die Kamera von damals kaufte er dem Hamburger Abendblatt ab

Der große Fotoapparat ist heute ein Schmuckstück in der großen Kamera-Sammlung der Familie Kiesel. Als Hans-Günter Kiesel in den 1980er-Jahren das Abendblatt verließ, um Fotochef einer großen Segelsportfachzeitschrift zu werden, kaufte er das unhandliche Gerät für 200 Mark. „Niemand hat die Linhof mehr benutzt, deshalb war sie in der Fotoredaktion überflüssig geworden.“ Heute erinnert sie ihn an die dramatischen Ereignisse vor 50 Jahren.