Hasloh. Der Sprinter der SV Polizei Hamburg stand in München auch im olympischen 100-Meter-Finale. Trotzdem war er für die Staffel nicht vorgesehen.
Für den größten Moment seiner sportlichen Karriere war Jobst Hirscht gar nicht vorgesehen. Ein Jahr vor den Olympischen Sommerspielen 1972 in München hatte der Sprinter der SV Polizei ein Ausscheidungsrennen gegen den Mainzer Gerhard Wucherer um einen Platz in der bundesdeutschen 4 x 100-Meter-Staffel knapp verloren. Staffeltrainer Walter Oberste (Münster) plante fortan ohne den Hamburger, ließ das Quartett aus Wucherer, Manfred Ommer, Karlheinz Klotz und Klaus Ehl die Wechsel für den Olympiaeinsatz üben. Hirscht blieb der fünfte Mann. Die Entscheidung schien unumstößlich.
Hirscht fand sich mit seiner zugedachten Rolle notgedrungen ab, den Ehrgeiz des späteren Polizeihauptkommissars und Sportlehrers beflügelte jedoch die Chance, dennoch in den Einzelrennen über 100 Meter starten zu dürfen. „Ich habe im folgenden Winter mein Training umgestellt, bin vermehrt längere Strecken gelaufen, 300 und 400 Meter, um mein Stehvermögen zu verbessern. Das hat gut geklappt“, blickt der heute 74-Jährige auf die Gründe seiner folgenden Leistungssteigerung zurück. Diese sollte ihn vor nun 50 Jahren ins olympische 100-Meter-Finale und zum Gewinn der Bronzemedaille mit der Staffel führen. „Beide Erfolge lagen ein Jahr zuvor noch weit außerhalb meiner Vorstellungskraft“, sagt Hirscht.
Jobst Hirscht war für die olympische Staffel nicht eingeplant
Bei den deutschen Leichtathletik-Meisterschaften im Juli 1972, die bereits im Münchner Olympiastadion ausgetragen wurden, rannte der Hamburger über 100 Meter hinter Ommer und vor Wucherer auf Platz zwei, hatte sich damit seine Olympiateilnahme gesichert. In den Staffelplanungen blieb er weiter außen vor.
Daran änderte sich auch nichts, als Wucherer im 100-Meter-Vorlauf, Ehl im Zwischenlauf ausschied, Hirscht dagegen Runde für Runde mit guten Zeiten weiterkam, im Halbfinale mit 10,25 Sekunden einen neuen Hamburger Rekord aufstellte und am späten Nachmittag des 1. September im Endlauf stand. Damit hatte niemand gerechnet, selbst Hirscht nicht. Ommer hatte auf die 100 Meter verzichtet, konzentrierte sich auf die doppelte Distanz, spurtete hier bis ins Halbfinale.
Das 100-Meter-Finale, stets einer der Höhepunkte Olympischer Sommerspiele, „habe ich dann nur noch genossen. Die Atmosphäre im Stadion hat mich beflügelt, ich fühlte mich vom Publikum bis in den Endlauf getragen“, sagt Hirscht. In 10,40 Sekunden wurde er Sechster, Waleri Borsow aus der Sowjetunion siegte in 10,14 Sekunden. Der Hamburger war vermutlich einer der wenigen, die es mit reiner Muskelkraft in den Endlauf geschafft hatten, möglichweiser sogar der Einzige. Darüber will er jedoch nicht spekulieren.
Ommer trat nach Attentat auf Israel-Team nicht an
Doping war zwar schon damals ein Thema, „es gab ab und zu Kontrollen, wir erhielten Listen mit Medikamenten, die verboten waren, erzählt wurde uns aber, für Sprinter bringe das rein gar nichts“, berichtet Hirscht. 1977 outete sich Ommer, er habe mit Dianabol gedopt.
Der 2021 verstorbene Ommer, später bekannt als umstrittener Anlageberater („Ommer-Modell“) und Präsident des Fußball-Bundesligaclubs FC Homburg, war es auch, der neben dem Volleyballer Klaus-Dieter Buschle als einer von zwei Mitgliedern der 440 Personen starken bundesdeutschen Olympiamannschaft nach dem Attentat auf das israelische Team in München nicht mehr antrat – und damit den Platz in der Staffel für Startläufer Hirscht freimachte. Den damals schnellsten deutschen Sprinter nicht berücksichtigen zu wollen, hatte Staffeltrainer Oberste bereits vorher in Erklärungsnot gestürzt. Am 10. September rannten Hirscht, Klotz, Wucherer und Ehl in 38,79 Sekunden hinter den USA (38,19/Weltrekord) und der Sowjetunion (38,50) zu Bronze. Fünfter wurde die DDR (38,90).
1973 beendete Hirscht als 25-Jähriger früh seine Karriere, in Berlin war er erstmals deutscher 100-Meter-Meister geworden. „Ich habe eine neue Lebensphase begonnen, geheiratet, unser Sohn kam bald danach zur Welt, und in Köln habe ich meine Ausbildung zum Sportlehrer gestartet“, sagt Hirscht. In der Leichtathletik gab es zudem kaum was zu verdienen. Der Sportartikelhersteller Puma zahlte monatlich 100 D-Mark als „Ernährungszuschlag“, die Olympiamedaille wurde mit einem Bausparvertrag über 2500 Mark belohnt.
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1975 zog Hirscht nach Hasloh. 2008 hörte er bei der Polizei auf, vor vier Jahren starb seine Frau. Seitdem reist er noch mehr. Seine Staffelkameraden traf er zuletzt vor zwei Monaten in München. Dass sie ihre Medaille auch ihrem Startläufer zu verdanken haben, ist allen 50 Jahre lang in Erinnerung geblieben.
Neben Box-Olympiasieger Dieter Kottysch und Hirscht gewannen 1972 vier weitere Hamburger Medaillen: Eckardt Suhl (Uhlenhorster HC) Gold mit der Hockey-Nationalmannschaft; jeweils Bronze vor Kiel holten die Segler Ullrich Libor/Peter Naumann im Flying Dutchman sowie Willi Kuhweide/Karsten Meyer (Hannover) im Starboot.