Hamburg. Nur Petkovic schafft es am Rothenbaum im Viertelfinale. Die Bundestrainerin analysiert Tennis der Zukunft. Ihre Einschätzungen.

Ein tolles Turnier sei das, perfekt organisiert, unheimlich wohl fühle sie sich – und trotz alledem findet die Damenkonkurrenz der Hamburg European Open am Rothenbaum fortan ohne Jule Niemeier statt. Die 22 Jahre alte Dortmunderin, 2021 Halbfinalistin in Hamburg und seit ihrem Viertelfinaleinzug in Wimbledon vor wenigen Wochen einem breiteren Sportpublikum bekannt, unterlag in ihrem Auftaktmatch der Schweizer Qualifikantin Joanne Züger (21/Nr. 165) mit 4:6, 6:0, 4:6. „Ich war nach Wimbledon sehr müde, habe gegen den Rat meines Teams hier gespielt, weil ich das Turnier so mag“, sagte die Ranglisten-102. Sehen konnte man das nur ansatzweise.

Weil auch die frühere Wimbledonfinalistin Sabine Lisicki (32/Berlin/Nr. 399) ihre Comebacktour nach einem 4:6, 2:6 gegen die Serbin Aleksandra Krunic (29/Nr. 75) nicht fortsetzen kann, ist es an Andrea Petkovic (34/Darmstadt/Nr. 67), die deutsche Ehre zu retten. Die Vorjahres­finalistin und Turnierbotschafterin steht nach ihrem 6:4, 6:3-Erfolg über Misaki Doi (31/Japan/Nr. 107) im Viertelfinale, ihre Gegnerin ermitteln an diesem Mittwoch die topgesetzte Estin Anett Kontaveit (26/Nr. 2) und Rebecca Peterson (26/Schweden/Nr. 93).

Hamburg European Open: Spieler athletischer geworden

Barbara Rittner beschäftigt sich seit 2009 als Chefbundestrainerin mit der Förderung der deutschen Talente. Als Expertin für den TV-Sender Eurosport hat die 49-Jährige in den vergangenen Monaten ihre Analyse des internationalen Damentennis vertiefen können, um Trends aufzuspüren, die auch für die Arbeit der Trainerteams im Deutschen Tennis-Bund (DTB) wichtig sind. Drei Kernpunkte hat die frühere Weltklassespielerin ausgemacht, die künftig die Entwicklung der Weltspitze prägen werden.

Der erste Aspekt ist die körperliche Fitness. „Es sind über die vergangenen Jahre alle Spielerinnen im Schnitt athletischer geworden, teilweise aber nicht in dem Maß, wie es notwendig wäre, was sich daran zeigt, dass sich viele Verletzungen einschleichen“, sagt sie. Über eine ausbalancierte Ernährung und individuell zugeschnittenes Training könne der physische Bereich nahezu ausgereizt werden. „Wir haben heute schon im Jugendbereich eigene Physiotherapeuten, Ernährungsberater und Fitnesstrainer“, sagt sie.

Hand-Augen-Koordination kann im Training verbessert werden

Der zweite Hebel ist der Aufschlag. „Die Spitzenspielerinnen gewinnen heute deutlich mehr freie Punkte mit dem eigenen Aufschlag oder der Dominanz beim Return als früher. Daran zu arbeiten ist ein ganz wichtiges Element“, sagt sie. Den dritten und entscheidenden Aspekt sieht Barbara Rittner allerdings im Treffpunkt der Bälle. „Die Spielerinnen, die die Bälle überwiegend im Steigen nehmen, haben entscheidende Vorteile, die Gegnerin unter Druck zu setzen“, sagt sie. „Bei den Besten ist der Hitting Point einen Schritt vor der Grundlinie. Wer da mithalten will, muss das trainieren.“

Barbara Rittner, Turnierdirektorin der ATP-Turniere in Köln.
Barbara Rittner, Turnierdirektorin der ATP-Turniere in Köln. © dpa | Marius Becker

Voraussetzung seien eine extrem ausgeprägte Hand-Augen-Koordination, die mit speziellen Übungen im Training optimiert werden kann, aber auch ein dauerhaft hoher Fokus auf die Intensität jedes einzelnen Schlags. Rittner nennt als Beispiel die 18 Jahre alte Nastasja Schunk, die am Rothenbaum in Runde eins gegen die Belarussin Alexandra Sasnowitsch ausschied. „Nasti konnte anfangs vielleicht 30 Minuten mit 100 Prozent Intensität spielen. Nach sechs Monaten mit Benni Ebrahimzadeh an der Akademie in Wiesbaden schafft sie es nun eineinhalb Stunden. Wer ganz nach oben will, muss es drei Stunden lang können. Daran arbeiten wir.“

„Sie ist körperlich austrainiert"

Das Paradebeispiel für das beste Gesamtpaket auf der Damentour sieht Rittner in der polnischen Weltranglistenersten Iga Swiatek (21). „Sie ist körperlich austrainiert, ihr Aufschlag ist eine Waffe, und wie sie jeden Ball im Steigen nimmt, das ist lehrbuchmäßig.“ Der frühe Treffpunkt sei kein neues Phänomen, „Steffi Graf, Monica Seles, auch Serena Williams konnten es, aber Iga hat es perfektioniert.“ Weitere Spielerinnen, die die Zukunft prägen dürften, sind aus Rittners Sicht Emma Raducanu (19/Großbritannien/Nr. 10), Cori Gauff (18/USA/Nr. 11), Leylah Fernandez (19/Kanada/Nr. 14), Amanda Ani­simova (20/USA/Nr. 22) und die Chinesin Qinwen Zheng (19/Nr. 47).

Auch die Japanerin Naomi Osaka (24), als ehemalige Weltranglistenerste mittlerweile auf Position 38 abgerutscht, hätte alle Anlagen, um die Tenniswelt zu dominieren. „Aber bei ihr kommt zum Tragen, was ich bei der gesamten jungen Generation westlicher Athletinnen beobachte: Sie lässt sich zu sehr von den vielen Nebengeräuschen ablenken, die es heutzutage gibt. Das ist der Unterschied zu Iga, die ihren kompletten Fokus auf den Sport legt“, sagt Rittner.

„Jule Niemeier hat aktuell das beste Gesamtpaket"

Immer wieder hatte die Kölnerin in den vergangenen Jahren den Nachwuchs für zu viel Bequemlichkeit kritisiert. Die nach der „goldenen Generation“ um die dreifache Grand-Slam-Siegerin Angelique Kerber (34/Kiel/Nr. 31) und Petkovic entstandene Lücke sorgt im DTB seit Längerem für Diskussionen. Nun jedoch gibt es eine Gruppe an Spielerinnen, die Rittner Hoffnung macht. „Jule Niemeier hat aktuell das beste Gesamtpaket: einen starken Aufschlag, technisch mit allem gesegnet, was es für die Weltklasse braucht, und ein sehr professionelles Umfeld. Sie muss allerdings mehr aus ihrer Komfortzone raus und verinnerlichen, wie gut sie sein kann, wenn sie jeden Tag alles gibt.“

An der Einstellung, ohne Kompromisse auf den Sport zu setzen, fehle es noch zu häufig. „Wir können die besten Ratschläge und Richtungen vorgeben, aber wenn die Motivation nicht intrinsisch ist, wird es nicht funktionieren“, sagt die Chefbundestrainerin. Als Positivbeispiele nennt sie neben Schunk („Sie ist die, die am härtesten trainiert“) die Hamburgerin Eva Lys (20), die bei ihrem ersten Hauptfeldstart am Rothenbaum in Runde eins ausschied, und deren Teamkolleginnen vom Club an der Alster, Noma Noha Akugue (18) und Ella Seidel (17), die in der Qualifikation noch chancenlos waren.

Hamburg European Open: „Eva muss körperlich zulegen"

„Eva muss körperlich zulegen, hat aber sehr gute Spielanlagen. Noma war leider oft verletzt, arbeitet aber mittlerweile an der Akademie in Wiesbaden sehr zielgerichtet. Und Ella gefällt mir sehr gut, sie saugt alles auf, ist sehr lernwillig und körperlich auf einem guten Level. Sie muss nur lernen, ihren Perfektionismus zu zügeln und sich nicht zu viel Druck zu machen.“ Klar ist aber, das zeigt sich auch am Rothenbaum: Der Weg in die Weltspitze bleibt für die deutschen Tennisdamen ein sehr weiter.