Hamburg. Die HSV-Überraschung der Saison spricht im Abendblatt-Interview über Reflexionstraining und die Heimat seines Vaters.
Als Daniel Thioune nach dem Training auf Jan Gyamerah angesprochen wird, kommt der HSV-Trainer aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus. „Er macht gerade richtig Spaß“, lobt Thioune, und: „Jan hat zuletzt in jedem Spiel noch einen draufgesetzt.“ Höchste Zeit also, mit dem Draufsetzer einmal das Gespräch zu suchen.
Hamburger Abendblatt: Herr Gyamerah, in unserem letzten Interview haben Sie behauptet, Sie würden sich keine „Kicker“-Noten mehr anschauen. Sind Sie auch nach Ihrem starken Derby dabei geblieben?
Jan Gyamerah: Da bin ich meiner Linie treu geblieben.
Von „Kicker“, „Mopo“ und „Bild“ gab es unisono die Note Zwei, vom Abendblatt die Bewertung „eine Maschine auf zwei Beinen“ und „bester Mann“. Hand aufs Herz: Wirklich alles noch nicht gelesen?
(schmunzelt) Proaktiv nicht. Das eine oder andere wurde mir per WhatsApp zugeschickt. Wenn man dann die Nachrichten öffnet, liest man ja automatisch drüber. Ob ich aber wirklich der „beste Mann“ gewesen sein soll, weiß ich nicht. Als doppelter Torschütze war Simon (Terodde, die Red.) ja auch nicht so ganz schlecht.
Wie reflektieren Sie nach einem Spiel Ihre eigene Leistung?
Nach so einem abwechslungsreichen Spiel wie gegen St. Pauli denke ich noch lange über alles nach. Ich kann dann auch nicht gut einschlafen, gehe zwar vor Mitternacht ins Bett, drehe mich aber von rechts nach links und wieder zurück. Ich denke an die guten Szenen und an die weniger guten Szenen wie vor dem 2:2, wo ich nicht ganz so gut aussah.
Der HSV hat seit dieser Saison einen eigenen Reflexionscoach. Nutzen Sie Martin Daxls Hilfe?
Sehr gerne sogar. Martin ist in der Regel jede Woche zwei bis drei Tage bei uns. Ich habe gemerkt, dass es mir einfach hilft, mich mit ihm zu unterhalten. Es ist ja ein freiwilliges Angebot des Vereins. Ab einem gewissen Level kann ja jeder Fußball spielen. Ich denke aber schon, dass sich auch ganz viel im Kopf entscheidet. Da kann man noch einige Prozente rausholen. Ich weiß , dass ich mich nicht psychologisch analysieren muss. Es geht einfach darum, einige Dinge besser zu reflektieren.
Ist es nicht schwer, sich jemandem zu öffnen, den man erst so kurz kennt?
Mir tut er gut. Die ganze Mannschaft hat ihn ja während des Trainingslagers in Österreich kennengelernt. Gideon (Jung, die Red.) kannte ihn schon aus Oberhausen, Klaus (Gjasula, die Red.) hat mit ihm auch schon in Paderborn gearbeitet.
Waren Sie schon immer Mentaltraining offen gegenüber?
Eigentlich schon. Auch in Bochum hatte ich einen Mentaltrainer, mit dem ich bis heute guten Kontakt habe. Gerade während meiner langen Verletzungsphase hatte ich das Gefühl, dass ich diese Gespräche sehr gut gebrauchen kann.
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Hat sich an Ihrer Einstellung durch Ihren Wadenbeinbruch im vergangenen Jahr etwas verändert?
Jein. Nach meiner schweren Verletzung habe ich mir vorgenommen, Fußball noch bewusster zu genießen. Das klingt vielleicht komisch, aber ich habe momentan einfach Spaß. Zwischendurch hatte ich die Sorge, dass ich das Ganze vielleicht zu locker nehmen könnte. Wenn man aber so schwer verletzt war wie ich, dann unterschreibt man sofort, einfach wieder in der Mannschaft dabei zu sein. Jetzt, wo ich wieder voll da bin, will ich aber natürlich auch eine wichtige Rolle einnehmen, dem Team helfen. Trotzdem erlebe ich jetzt alles bewusster und intensiver als vorher. Ich bin schon dankbar dafür, dass ich diese Verletzung überwinden konnte.
Beim HSV heißt es immer wieder, Sie würden über eine extrem hohe intrinsische Motivation verfügen. Wie motivieren Sie sich?
Gute Frage. Ich will mir auf keinen Fall nach der Karriere vorwerfen lassen, nicht alles aus mir rausgeholt zu haben. Deswegen nehme ich mir immer wieder vor, das Beste aus mir herauszuholen.
Beim Derby hatte man das Gefühl, dass Sie sich bewusst vorgenommen hatten, als Verteidiger immer wieder nach vorne zu dribbeln und das Offensivspiel aktiv anzukurbeln. Hat sich das im Spiel ergeben oder war das eine bewusste Entscheidung von Ihnen schon vor dem Spiel?
Der Trainer will schon, dass wir mutig spielen. Deswegen habe ich mir vor dem Derby bewusst vorgenommen, diese mutigen Dribblings zu wagen. Ich mag die Idee und Art, wie der Trainer unseren Spielaufbau weiterentwickelt. So zu spielen bringt Spaß. Und da sind wir dann auch wieder bei Martin Daxl. Er betont immer wieder, dass wir Spaß haben sollen bei dem, was wir tun.
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Das klingt so einfach.
Es ist ja eigentlich auch ganz einfach. Fußball bringt doch Spaß. Als ich noch jung war, haben sich alle immer einen unglaublichen Druck gemacht. Aber wenn ich verkrampfe, dann kann ich nicht befreit aufspielen. Spaß ist wichtig.
Besonders viel Spaß scheint Ihnen Ihre Rolle als moderner Innenverteidiger in der Dreierkette zu machen. Haben Sie die Position neu für sich entdeckt?
Ich habe die Position schon mal in Bochum unter Gertjan Verbeek gespielt, allerdings mit ganz anderen Vorgaben. Und auch unter Dieter Hecking haben wir in Heidenheim Dreierkette gespielt. Da war ich aber vor der Dreierkette ganz außen. Unter Daniel Thioune bin ich jetzt in die Dreierkette zurückrotiert und habe gemerkt, wie gut das funktionieren kann. Die Dreierkette wird ja immer beliebter. Vor ein paar Jahren hat das kaum einer gespielt, jetzt scheint es der neue Standard zu sein.
Für mich wäre es ein Traum, für Ghana zu spielen
Neben Ihnen spielt Stephan Ambrosius in der Dreierkette. Wie Sie ist er in Deutschland geboren, hat aber einen ghanaischen Elternteil – und soll nun sogar vom ghanaischen Verband umworben werden. Hat Nationaltrainer Charles Akonnor, der erst kürzlich in Hamburg war, auch mal bei Ihnen durchgeklingelt?
Hat er leider nicht.
„Leider“ heißt, dass Sie interessiert wären?
Sogar sehr. Für mich wäre es ein Traum, für Ghana zu spielen. Seit der WM 2006 bin ich ein großer Fan der Black Stars. Da war ich elf Jahre alt – und Ghana war zum ersten Mal bei einer WM dabei. Mich hat das total begeistert. Ich kann mich noch genau an das erste WM-Tor von Asamoah Gyan erinnern. Gegen Tschechien. Und vier Jahre später war es noch aufregender. Da wäre Ghana fast die erste afrikanische Mannschaft gewesen, die ins Halbfinale eingezogen wäre. In der 120. Minute hält Luis Suárez den Ball auf der Linie mit der Hand, und Gyan schießt den Strafstoß drüber. Im Elfmeterschießen schieden wir dann aus. Diese Momente werde ich nie vergessen. Schon damals habe ich zu meinem Vater gesagt, dass ich unbedingt mal für Ghana spielen wollen würde.
Sind Sie zweisprachig aufgewachsen?
Nein – und das wurmt mich auch bis heute. Mein Vater wollte, dass wir nur deutsch sprechen, damit wir besser integriert sind. Er wollte auf keinen Fall, dass wir schlechter deutsch sprechen als die deutschen Kinder.
Ihr Vater Stephan ist 1989 nach Deutschland zum Studieren gekommen, wollte aber nie Deutscher werden. Wie verbunden fühlen Sie sich mit der Heimat Ihres Vaters?
Sehr verbunden, auch wenn ich bisher nur zweimal in meinem Leben in Ghana war. Das letzte Mal war direkt nach der WM 2010, also schon viel zu lange her. Ich habe mir aber fest vorgenommen, dass ich nach der Corona-Krise zusammen mit meiner Schwester so bald wie möglich nach Ghana reise. Sie ist 18 Jahre alt und macht nächstes Jahr Abitur. Dann wollen wir unbedingt auch unsere Oma wiedersehen.
Sie haben sie seit 2010 nicht mehr gesehen?
Nein. Meine Oma war noch nie in Deutschland. Wir skypen regelmäßig, aber sie persönlich mal wieder zu treffen wäre das Größte. Und von mir aus auch gerne im Rahmen eines Länderspiels für Ghana … (lacht)