Hamburg. Um als Rennreiter im Galoppsport erfolgreich zu sein, muss das Gewicht möglichst gering sein. Ein Besuch in der Wiegestube in Horn.
Es fehlen ein paar Gramm. Wortlos reicht Henning Böhlke dem Jockey neben sich sein kleines Funkgerät. Ein kurzer Blick auf den Monitor. Nun stimmt das Gewicht. „Okay“, sagt Böhlke, nickt knapp und macht einen Haken hinter dem Namen in dem großen Kontrollbuch, das vor ihm liegt. Wieder einer, der beim Zurückwiegen, wie es im Fachjargon heißt, dem Reglement entspricht. Dass der Kontrolleur mit einem mobilen Zusatzgewicht aushilft, ist legal. „Wir haben 400 Gramm Ermessensspielraum“, sagt Böhlke.
Ein bisschen sieht es in der Wiegestube auf der Rennbahn in Horn aus wie bei einem Steuerberater für Arme. Der Schreibtisch, an dem der sogenannte Abwieger sitzt, ist billig aber ziemlich aufgeräumt. Außer der DIN A4 großen Kladde, ein paar Unterlagen und dem handlichen Funkgerät für den schnellen Kontakt nach draußen, liegt nichts Überflüssiges herum. Böhlke selbst ist 53 Jahre alt und im richtigen Leben Metallfacharbeiter.
Über- und Untergewicht sind strafbar
Der verbliebene Haarkranz ist kurz geschnitten, das dunkelgraue Hemd hat lange Ärmel, die Krawatte sitzt und er trägt eine seriös machende Brille. Auf dem schlichten Schulstuhl strahlt er aus, was er macht: sorgfältiges Nachprüfen, aber auch Verständnis zeigen für die männlichen und weiblichen Berufs-Rennreiter, die nach dem Absatteln sofort zu ihm kommen müssen und Rechenschaft über eine Spanne zwischen 52 bis 6o Kilogramm ablegen müssen – je nach Rennen und Gewichtsvorgabe.
Der ehemalige Amateur-Jockey und zeitweilige Besitzertrainer Böhlke ist in der Rennwoche sozusagen Herr der Gewichte. Verweigert er als Mitglied der Rennleitung nach dem Blick auf sein Display das Okay, haben die Jockeys ein Problem. Über-, aber auch Untergewicht sind strafbar in diesem Sport. Ersttäter erhalten eine Verwarnung, danach kostet es 50 Euro. Und die ganz Uneinsichtigen erhalten einen Tag Rennverbot. „Aber mit zwei Wochen Vorlauf“, sagt Böhlke. „Das ist schließlich so etwas wie ein Berufsverbot.“ Die Jockeys haben Verträge für Renntage abgeschlossen. Die Frist gibt ihnen Zeit, den am wenigsten finanziell schmerzhaften Tag auszusuchen.
Inzwischen sitzt mit Saskia Müller (26) einer der weiblichen Jockeys bei Böhlke auf der Waage. In Hamburg ein unspektakulärer Anblick (dunkler Kasten, auf dem ein Stuhl steht), in Hoppegarten in Berlin wird auf einer überdimensionierten Standwaage kontrolliert. 54,5 Kilogramm, ohne Helm und Peitsche, aber mit Sattel durfte die Amateur-Rennreiterin in diesem Rennen wiegen. Dass sie sich später an einem der Foodtrucks kalorienreiche Kartoffeln gönnt, kann sie sich erlauben, weil sie an dem Tag kein Rennen mehr hat. Und auch nicht an den Tagen danach.
Sie kehrt zurück in ihren Job bei Exon Mobil in Großenkneten. Geritten hat sie schon immer, aber auch schnelle Autos waren ihr Ding. Eine Zeit lang ist sie auch Tourenwagen gefahren. Aber da machte der Arbeitgeber irgendwann nicht mehr mit. „Also habe ich mich für die Pferde entschieden“, sagt Müller. Auch die geben ihr bei einer Geschwindigkeit von 70 Kilometern pro Stunde im Rennen den geliebten Adrenalinkick.
Je kleiner, desto leichter
Dass diszipliniertes Essen, wenn nicht sogar Hungern, Alltag ist in diesem Sport ist, stellt für die zierliche Frau noch kein Problem dar. Zumeist erhält sie ein Zusatzgewicht, um im regelkonformen Bereich zu sein. Für ihre männlichen Kollegen ist das oft schwieriger, vor allem mit zunehmendem Alter und ab einer bestimmten Körperlänge. Bei den Jockeys gilt, je kleiner, desto leichter, desto schneller. Ein Kilo weniger Gewicht bringt im Rennen eine Pferdelänge. Bei den Skispringern ist das Dilemma ähnlich. Athlet, Skier und Skisprunganzug müssen als Gesamtpaket für alle vergleichbar sein. Auch hier gilt: Muskeln sind verpönt. Sie sind schwerer als Fett. Aber auch: Wer zu leicht ist, erhält Zusatzgewichte.
Um abzunehmen, gehören Joggen, viele Saunagänge, Essensverzicht, sowie unorthodoxe Schwitzmaßnahmen dazu. Manch einer hüllt sich in eine Plastikplane über dem Trainingsanzug, setzt sich in ein überhitztes Auto und schwitzt so noch vor Ort das letzte Kilo heraus. Dass es Essstörungen gibt, wie in anderen Sportarten, bei denen es um möglichst geringes Gewicht geht, ist bei den Jockeys offiziell kein Thema.
Manchmal allerdings rebelliert der menschliche Organismus gegen die Tortur. Wie ein Auto, das mit dem letzten Sprittropfen stehen bleibt, versagt auch der Körper seinen Dienst. „Ich möchte den Namen nicht nennen“, sagt Böhlke. „Aber mir ist in dieser Woche einer umgekippt. Kreislaufkollaps beim Wiegen. Da musste ich den Rennarzt holen.“
„Lebensqualität war das nicht“
Auch Trainer Henk Grewe (35) kann sich noch gut an seine Zeit als Rennreiter erinnern und die Qualen, wenn er bei einer Körpergröße von 1,70 Metern vor den Rennen von 58 Kilogramm auf 54 abspecken musste. „Ich hatte immer Probleme mit dem Gewicht“, sagt er. „Lebensqualität war das nicht.“ Dass er umsattelte von Jockey auf Trainer hat er Ehefrau Natascha zu verdanken.
Die sagte irgendwann zu ihm: „Ich kann deine schlechte Laune nicht mehr ertragen. Ändere etwas.“ Grewe machte sich vor vier Jahren in Köln mit einem Stall und Partnern selbstständig. 70 Pferde betreut er mit seinen Mitarbeitern. 25 davon hat er mit nach Hamburg gebracht. Inzwischen bringt er 64 Kilogramm auf die Waage. „Der Berufswechsel war wie eine Erlösung“, sagt er. Man könnte ihn dennoch überschlank nennen.