Breslau. Deutschland will weiter für die Sportart werben. Bundestrainer Sigurdsson ist der Vater des Erfolgs. Heute Halbfinale gegen Norwegen.
In roten Pullovern und grauen Jogginghosen saßen die Spieler der deutschen Handball-Nationalmannschaft am Donnerstagmorgen in ihrem Hotel in Breslau und warteten auf den Bus, der sie nach Krakau bringen sollte. Dieses einheitliche äußerliche Auftreten – auch abseits des Spielfeldes – bezeichnen andere Nationen gern mit einem Augenzwinkern als „typisch deutsch“. Welcher Sportler kennt sie nicht, diese Teams, die einem durch ihr professionelles Äußeres Angst und Bange machen – bis sie dann das Feld betreten und der Schein schnell verblasst. Bei den deutschen Handballern ist das anders. Sie leben eine spürbare Geschlossenheit, die ihnen auf dem Feld eine besondere Kraft verleiht.
Als Ganzes haben sie es bei der Europameisterschaft bis ins Halbfinale geschafft, wo sie am Freitag in der Tauron Arena in Krakau auf Norwegen treffen (18.30 Uhr, ZDF). Jeder gehört zum Team, seien es die verletzten Weltklasse-Außen Uwe Gensheimer und Patrick Groetzki, die zwar nicht mitspielen konnten, aber in der Vorrunde zum Zuschauen nach Breslau kamen, oder Kai Häfner und Julius Kühn, die erst am Montag nachreisten, um Steffen Weinhold und Christian Dissinger zu ersetzen, die trotz ihrer Verletzungen am Donnerstag mit dem Team nach Krakau reisten. „Gleich als ich hier ankam, habe ich gemerkt, dass die Jungs ein eingeschweißtes Team sind, und ich bin stolz darauf, jetzt auch Teil davon zu sein“, sagt Häfner, 26.
Mit seinem Zimmerkollegen Kühn, 22, der beim 25:23-Sieg gegen Dänemark auch gleich helfen konnte, lag er nach dem Spiel im Zimmer und sinnierte darüber, wie unglaublich es sei, jetzt in Polen im EM-Halbfinale zu stehen. Für die deutschen Handballer ist es das erste Halbfinale seit 2008. Damals wirkte es noch nach, das Wintermärchen von 2007, als Deutschland im eigenen Land den WM-Titel gewann. Kurz darauf verschwand der deutsche Handball für einige Zeit von den großen Bühnen. Jetzt geht wieder eine Welle der Euphorie durch das Land, die auch dank der umtriebigen Handball-Ikone Stefan Kretzschmar, der Promis wie Til Schweiger, Kurt Krömer oder Jogi Löw diverse Motivationsvideos abverlangte, eine neue Ebene erlangt hat. „Es für unsere Sportart so wichtig, dass wir mit der Nationalmannschaft Erfolg haben“, sagt Torhüter Carsten Lichtlein, der als Einziger des aktuellen Kaders 2007 beim Titelgewinn dabei war.
WM-Teilnahme jetzt ohne Wildcard möglich
Den größten Anteil an diesem Erfolg hat das Team selbst. „Ich glaube, dieser Mannschaft beim Handball zuzugucken, macht vielen Spaß“, sagt Lichtlein. So erging es auch Kapitän Weinhold, der am Mittwoch zum ersten Mal bei der EM ein Spiel von der Tribüne aus verfolgte. „Ich glaube, ich habe meinen Kaugummi im Achteltakt gekaut, da ist man schon nervöser als auf der Platte.“ Bei aller Freude über den Halbfinaleinzug macht er aber auch deutlich, wie wichtig es jetzt ist, diese Chance zu nutzen. „Klar ist mit den Spielern, die wir haben, in den kommenden Jahren einiges möglich, aber wir müssen jetzt diesen Moment nehmen. Man kann nie wissen, wann man diese Chance wieder bekommt.“
Wenn auch alle Beteiligten in Richtung 2020 schauen zum öffentlich ausgegebenen Ziel Olympia-Gold und die Erwartungen bei dieser EM schon als übertroffen gelten, so will doch keiner mit einem vierten Platz nach Hause fahren. Wird Deutschland mindestens Dritter, wäre die Mannschaft für die WM 2017 in Frankreich qualifiziert. „Dann brauchen wir auf jeden Fall keine Wildcard wie 2015“, sagte DHB-Vizepräsident Bob Hanning. Jetzt kann er darüber lachen, die Zeit des schlechten sportlichen Abschneidens, in der nur die Auseinandersetzungen der Funktionäre für Schlagzeilen sorgten, haben dem Sport aber immens geschadet. Der mitgliederstärkste Handballverband der Welt verlor mehr und mehr Anhänger. „Deshalb habe ich mich am meisten über vier Mails gefreut von mir unbekannten Personen, die mir vom Zulauf Handballinteressierter in ihren Vereinen berichteten“, sagte Hanning.
Sigurdsson ist der Vater des Erfolgs
Einen großen Anteil an dieser Entwicklung hat Bundestrainer Dagur Sigurdsson, der das Team mit seiner Unaufgeregtheit und analytischen Stärke von Sieg zu Sieg führt. „Das Schwierigste ist, einen komplizierten Spielplan möglichst einfach zu erklären. Gegen Dänemark hatte ich ein wenig Sorge, das waren schon sehr viele Sachen, die die Spieler da umsetzen mussten“, sagt er. Nun sei er sehr glücklich, aber auch schon wieder fokussiert, fügte er an. Schließlich braucht er am Freitag schon wieder einen neuen Matchplan.
Kommentar: Jung, dynamisch und erfolgreich
„Jetzt kommt ein großes Wochenende auf uns zu, wir wollen das Maximale rausholen und dann zufrieden nach Hause reisen“, sagte Sigurdsson. „Die Norweger sind ähnlich aufgebaut wie wir und haben nach der Niederlage im ersten Spiel eine richtige Welle erwischt.“ Vielleicht wird auch diese Reise gemeinsam unternommen. Abhängig vom Abschneiden sind im Anschluss an die EM Festivitäten in Berlin geplant, verriet Hanning.