Der Schwergewichts-Boxprofi hofft, mit dem Wechsel zum Sauerland-Stall den Streit zwischen seinem Manager und seinem Ex-Promoter zu beenden.
Hamburg. Als er aus dem Augenwinkel den Mann auf sich zukommen sah und in dessen Hand die Eisenstange, da wusste Gagik Khachatryan, dass ihn nur noch ein Wunder retten konnte. Den ersten Angreifer, der ihn gepackt hatte, hatte er noch zu Boden ringen und mittels Schlägen mit seinem Mobiltelefon, das er in der rechten Hand hielt, in Schach halten können. Doch dazu brauchte er beide Arme, und er wusste, dass er dann den Hieben mit der Eisenstange schutzlos ausgesetzt wäre. Als die ersten wuchtigen Schläge seinen Kopf trafen, und nur dorthin zielte der zweite Angreifer, wurde ihm schwarz vor Augen, er ging auf die Knie und riss die Arme zum Schutz über den Kopf. Dann rief er um Hilfe.
Ein Bewohner des Studentenwohnheims, vor dem der Angriff stattfand, hörte die Rufe, riss das Fenster auf und drohte damit, die Polizei zu alarmieren. Die beiden Angreifer ließen von ihrem Opfer, das mittlerweile stark blutete, ab und flüchteten. Bis heute ist ihre Identität ungeklärt. Aber Khachatryan glaubt zu wissen, in wessen Auftrag sie gehandelt hatten. Er ist überzeugt davon, dass der Überfall am 11. April gegen 20.20 Uhr mitten in Hamburg der nicht für möglich gehaltene Höhepunkt einer Privatfehde im Profiboxgeschäft zwischen Khachatryan und Waldemar Kluch war, dem Geschäftsführer des mittlerweile insolventen Profistalls Universum. Im Mittelpunkt dieser Fehde steht Schwergewichtler Denis Boytsov. Um den Hintergrund des Streits zu verstehen, muss man dessen Entstehungsgeschichte kennen.
Gagik Khachatryan, 43, geboren in Armenien, war früher selbst Profiboxer, heute führt er einen kleinen Schustereibetrieb im Hamburger Osten. Er lernte Boytsov kennen, als dieser 2004 als Profi zu Universum wechselte. Boytsov war 18 Jahre alt, und Gagik spürte sofort zwei Dinge: dass dieser Junge Hilfe brauchte in einem Land, dessen Sprache er nicht sprach. Und dass er ein besonderer Boxer werden könnte. „Denis fürchtete sich vor nichts, und er konnte unglaublich hart schlagen. Ich wusste sofort, dass er mal Weltmeister werden kann“, sagt Khachatryan. Er nahm sich des jungen Russen an, lud ihn oft zum Essen zu sich nach Hause, half ihm bei der Krankenversicherung, bei der Steuererklärung, besorgte Sponsoren und wurde zu seinem wichtigsten Berater. „Ich hatte nie viele Freunde, weil ich immer nur trainiert habe. Bei Gagik fühlte ich mich sofort sicher, ich habe ihm von Anfang an vertraut, weil er ein guter Mensch ist“, sagt Boytsov.
Seitdem unterschrieb er keinen Vertrag, ohne seinen Berater Gagik zu konsultieren. Das ging so lange gut, bis Universum-Gründer Klaus-Peter Kohl die Geschäfte im Sommer 2011 an Kluch übergab. Kluch wusste um Boytsovs Bedeutung, er sah in ihm eine Lebensversicherung, denn ein Schwergewichtler mit WM-Potenzial ist wie eine Lizenz zum Gelddrucken für einen Promoter. Doch Kluch fürchtete auch, dass Kohl ihm den Rohdiamanten streitig machen und an andere Promoter verkaufen könnte. Er wollte einen neuen Vertrag abschließen. „Das, was er uns vorlegte, war ein Sklavenvertrag“, sagt Khachatryan. Sie unterschrieben nicht – und bekamen Ärger. Es gab Drohungen per SMS, ungebetene Hausbesuche, persönliche Anfeindungen, kurz: Es war Psychoterror, der fast dazu führte, dass Boytsov mit dem Boxen aufgehört hätte.
Khachatryan ließ sich jedoch nicht erweichen, er kündigte Kluch jegliche weitere Zusammenarbeit auf und suchte nach neuen Möglichkeiten für seinen Boxer. „Ich hatte keine Angst, auch nicht, als man drohte, mir das Gehirn wegzuschießen. Ich habe mir ehrlich gesagt nicht vorstellen können, dass wirklich etwas passiert“, sagt er. Dann kam der Abend des 11. April. Khachatryan kann heute, fast vier Monate nach dem Überfall, entspannt darüber reden. Er zeigt Fotos aus dem Krankenhaus, wo man die Wunden an seinem Kopf genäht hatte, die schlimmste mit zwölf Stichen. „Wenn ich nicht gewusst hätte, wie man sich schützt und wehrt, dann wäre ich jetzt im Rollstuhl oder tot. Die Ärzte haben gesagt, dass ich einen riesigen Schutzengel gehabt habe“, sagt er.
Nachdem er zuvor monatelang versucht hatte, den Streit ohne Polizei zu regeln, zeigte er den Überfall an. „Denis und ich haben auch unsere Leute, die angeboten haben, die Sache anders zu regeln. Aber das ist keine Lösung. Wir leben in Deutschland, ich vertraue der Justiz und verabscheue Gewalt“, sagt er. Im Zuge der Ermittlungen wurde bei Kluch ein Mobiltelefon gefunden, von dem aus Drohungen verschickt worden waren. Der Unternehmer sitzt seit 7.Mai in Untersuchungshaft. Sein Anwalt wollte sich zu konkreten Vorwürfen nicht äußern.
Seitdem sind Khachatryan und Boytsov ruhiger, auch wenn sie sich noch immer bei jeder Gelegenheit vergewissern, nicht verfolgt zu werden. Boytsov ist Fremden gegenüber misstrauischer geworden, er trinkt beispielsweise kein Getränk, das er nicht selbst geöffnet hat. Aber er hat wieder Spaß am Boxen gefunden, er hat seinen Lebensmut zurück. Zwischenzeitlich war er auf 94 Kilogramm abgemagert, mittlerweile hat er sein Kampfgewicht von 105 kg wieder, das T-Shirt, auf dem der Kampfname „The Destroyer“ steht, spannt über mächtigen Muskelbergen.
Anfang Juli bestätigte die Rechtsvertretung des Universum-Stalls, dass man alle Forderungen von Boytsovs Anwaltschaft anerkenne. Damit war der Boxer offiziell vertragsfrei und konnte sich um die Fortsetzung seiner Karriere kümmern. Angebote hatte es viele gegeben, doch Khachatryan und Boytsov haben sich in der vergangenen Woche für eine langfristige Zusammenarbeit mit dem Berliner Sauerland-Stall entschieden. Der erste Kampf ist für den 24. August in Schwerin oder 14. September in Stuttgart geplant. Anfang dieser Woche zog Boytsov, der bei Karsten Röwer trainiert, von Hamburg nach Berlin.
„Sauerland ist das Beste für Denis, sie können ihm gute Kämpfe bieten, und wenn er die gewinnt, bekommt er schnell eine WM-Chance und kann bei der ARD im Hauptprogramm boxen“, sagt Khachatryan. Für 2014 ist ein WM-Kampf das große Ziel des 27-Jährigen, der in 33 Profikämpfen noch unbesiegt ist. Er hätte ihn schon 2012 oder in diesem Jahr haben können, ein Angebot der Klitschkos lag vor, doch Khachatryan lehnte ab. „Denis ist noch nicht bereit für einen Klitschko, ihm fehlt noch Erfahrung, und ich schicke ihn nicht in einen Kampf, für den er noch nicht bereit ist. Denis wird nicht verheizt“, sagt er. Das sei im Übrigen auch die beste Antwort auf all die Neider und Nörgler, die ihm vorhalten, nur an Boytsov verdienen zu wollen. „Ich habe an Denis noch nie einen Cent verdient, sondern nur draufgezahlt. Wenn er irgendwann Weltmeister ist, bekomme ich auch meinen Teil, aber es geht nicht um Geld, und das verstehen viele nicht“, sagt er.
Ihm gehe es um Freundschaft, um Werte wie Ehre und Treue. „Ich habe immer gesagt: Wenn jemand meinem Denis etwas Schlechtes will, dann nur über meine Leiche.“ Umso glücklicher ist er, dass diese Worte am 11. April nicht Realität geworden sind.