Abendblatt-Reporter Andreas Hardt kennt den All England Lawn Tennis and Croquet Club wie seine Westentasche. Er analysiert, warum das Finale von Sabine Lisicki mehr ist als ein Tennis-Match.
Hamburg/London. Es wird nicht getanzt. Wurde es nie in der Neuzeit. Aber Wimbledon ist voller Mythen und Mysterien, Dichtung, Wahrheit und Legenden. Die Mär vom Siegestanz beim Champions Dinner am Sonntagabend nach dem Herrenfinale gehört dazu. Sabine Lisicki wird sich dennoch ein Abendkleid besorgen müssen, wenn sie das Endspiel am Sonnabend gegen Marion Bartoli tatsächlich gewinnt. Sie kann es sich aber leihen, der All England Lawn Tennis and Croquet Club hilft dabei gerne.
Die ganz besondere Mischung aus Tradition und Moderne gehört eben dazu beim bedeutendsten Tennisturnier der Welt. Es ist nicht allein der Rasenbelag, der sich aus unerfindlichen Gründen nur in Wimbledon gehalten hat. Einst wurden schließlich auch die US Open in Forrest Hills und die Australian Open in Kooyong auf Rasen ausgetragen. Es ist der ideale Boden für das Tennisspiel von Sabine Lisicki, die Bälle sind schnell und springen flach ab, Aufschlag und harte Angriffsschläge haben mehr Wirkung als auf Sandplätzen.
+++ Der Tag vor dem Endspiel von Sabine Lisicki +++
Seit 1922 steht der gewaltige Centre Court auf dem Clubgelände an der Church Road im Londoner Stadtteil Wimbledon. Vorher wurde das Turnier im gleichen Viertel im Südwesten der Millionenmetrople an der Worple Road ausgetragen. Die wesentliche Struktur des Stadions hat sich seitdem mit Ausnahme der Überdachung 2009 nicht geändert. Noch immer schreiten die Spieler, bevor sie das Innere der Arena betreten, unter dem Auszug des Gedichts „If“ von Rudyard Kipling hindurch, das den Anspruch an einen Wimbledon-Champion klar zusammenfasst: „Ob Du Triumph oder Niederlage triffst, behandle beide Blender gleich.“
Bei einem Wimbledon-Sieg würde Lisicki in die Reihe der „Unsterblichen“ aufgenommen. Für immer wäre ihr Name in der Siegesliste zu lesen, sie würde Mitglied im All England Club werden mit lebenslangem Besuchsrecht. Und sie erhielte bei den zukünftigen Turnieren ihren eigenen Umkleidespind im Centre Court Gebäude. „Normale“ Spieler müssen sich gegenüber in einem modernen Funktionsgebäude umziehen, das sich seit 2000 an Stelle des ehemaligen „Hinterhofs des Henkers“ befindet, des ehemals zweitgrößten Platzes, auf dem oft Favoriten ausschieden.
Denn abgesehen vom Centre Court hat sich das Gelände in den letzten 15 Jahren radikal geändert. 1998 wurde der neue Number one Court eingeweiht, weitere moderne neue Showcourts folgten in den letzten Jahren. Wimbledon ist eine „Tennismaschine“ mit Platz für 60.000 Zuschauern pro Tag – und hat es dabei geschafft, seine einzigartige Atmosphäre einer „englischen Gartenparty“ zu bewahren.
Dazu gehören Traditionen wie der spielfreie „Middle Sunday“, Erdbeeren mit Cream (mindestens zehn Stück pro Portion), das alkoholhaltige Erfrischungsgetränk „Pimms“, Angehörige aller Streitkräfte als Freiwillige im Ordnungsdienst, „Honorable Stewards“, meist ältere Anwohner, die die Besuchermassen außerhalb der Anlage dirigieren — und die Schlange. Seit vier Jahren immerhin müssen die Overnight Camper nicht mehr auf dem Bordstein der Wimbledon Park Road und der Church Road sitzen, sondern dürfen ihre Zelte im Wimbledon Park aufschlagen.
Bis 6 Uhr am Morgen, dann werden die Zelte eingesammelt und verwahrt. Tausende stehen in der Schlange, um einige der wenigen Centre-Court- und Number-One-Court-Tickets zu erstehen, die im freien Verkauf erhältlich sind. Und die „Ground Tickets“ für die Außenplätze und Zugang zu „Henman Hill“, der Besucherterasse mit Blick auf eine gigantische Videowand, auf der die Partien vom Centre Court gezeigt werden.
Sabine Lisicki bekommt von dieser einzigartigen Atmosphäre alles mit. Als Spielerin muss sie über die Anlage laufen, um die etwas abseits der Turnierplätze gelegenen Trainingsplätze zu erreichen. Sie wohnt mit Familie und Trainerstab in einem gemieteten Haus im Wimbledon Village, unweit der Anlage. Das machen viele Spieler (und Journalisten), denn ausreichend Hotels in Wimbledon gibt es nicht. Und der Weg aus London ist trotz Polizei-Eskorte und Transportservice wegen verstopfter Straßen unberechenbar.
Freitagmittag mussten Lisicki und Bartoli noch einmal der internationalen Presse Rede und Antwort stehen. Ansonsten war Relaxen und Pflegen angesagt. Vielleicht ein paar Bälle auf einem Trainingsplatz schlagen, ein paar Autogramme geben. Und die aufkommende Nervosität ausblenden. Denn in Wimbledon geht es nicht nur um einen Turniersieg, es geht um einen ewigen Platz in der Sportgeschichte.
Abendblatt-Autor Andreas Hardt hat viele Jahre für den Sport-Informations-Dienst (sid) aus Wimbledon berichtet und auch den letzten Triumph von Steffi Graf miterlebt.