Der Torhüter bekennt sich öffentlich zu seiner Erkrankung und geht den Weg, den Robert Enke nicht nahm. Miller soll nun ein Vorbild sein.

Hamburg. Sie verstecken ihre Augen hinter dunklen Sonnenbrillen und erkundigen sich nach dem Hintereingang durch die Tiefgarage. Viele Patienten von Professor Frank Schneider, dem ehemaligen Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), wollen nicht erkannt werden bei ihrem Versuch, sich auf der Suche nach einem Weg zurück ins normale Leben professionell helfen zu lassen. Und natürlich kommen auch Fußballer in Schneiders Praxis.

„Wir haben viele Leistungssportler in Behandlung“, sagt Schneider und ergänzt: „Markus Miller ist in der Bundesliga kein Einzelfall.“ Der Torwart von Hannover 96 hatte am Dienstag gegen den Trend gehandelt und öffentlich gemacht, dass er sich wegen „mentaler Erschöpfung“ in stationäre Behandlung begeben hat. Die wenigsten von Schneiders Patienten gehen diesen Weg. „Bei ihnen ist es dann halt die Achillessehne“, erklärt Schneider.

Während über körperliche Verletzungen offenherzig Auskunft gegeben wird, bleiben Verletzungen an der Seele meist tabu. Miller und Hannover 96 haben sich für den Weg in die Öffentlichkeit entschieden. „Eine sehr gute Entwicklung“, lobt Sportpsychiater und -psychotherapeut Valentin Markser, der Robert Enke behandelt hatte. Knapp zwei Jahre nach dem Selbstmord des ehemaligen deutschen Nationaltorhüters, der an starken Depressionen litt, rückt nach Millers Bekenntnis die Thematik wieder in die Öffentlichkeit.

Teresa Enke bietet Markus Miller und seiner Familie Hilfe an

Dossier: Was die Seele quält

Nicht nur gute Erfahrungen mit einem „Outing“ hat Fußball-Profi Andreas Biermann gemacht. Der ehemalige Spieler von Union Berlin und dem FC St. Pauli hatte am 20. November 2009, bewegt vom Selbstmord Robert Enkes kurz zuvor, von seinen Depressionen berichtet. „Menschlich gesehen war es der einzig richtige Schritt“, sagt Biermann. Andererseits bereue er sein Bekenntnis auch: „Ich habe dadurch meinen Beruf verloren. Für meine Familie war das dramatisch. Die Verantwortlichen in den Vereinen haben mir zunächst viele Versprechungen gemacht, die sie später dann nicht eingehalten haben.“

Umso bemerkenswerter finden Biermann und Schneider den Schritt des Ersatztorwartes von Hannover 96. „Ein gutes Vorbild für andere Erkrankte. Millers Bekenntnis kann Leben retten“, glaubt Schneider. Besonders hob der Leiter der Aachener Uni-Psychiatrie die Rolle des Vereins hervor. „Die Krankheit gemeinsam anzugehen - das ist ein toller Erfolg“, so Schneider. Noch vor zwei Jahren sei so etwas undenkbar gewesen. Hannover habe mit dem vollzogenen Schritt vorbildlich gehandelt. „Wichtig ist, dass das gesamte Umfeld hinter dem Sportler steht“, sagt Schneider: „So hat der Patient die besten Chancen, wieder vollständig gesund zu werden.“

Schneider geht ähnlich wie sein Kölner Kollege Markser von einer positiven Behandlungsprognose aus. „Es gibt keinen Grund, warum er nicht zurückkommen sollte.“ Er könnte sich eine Rückkehr sogar noch in dieser Bundesliga-Saison vorstellen. Markser ergänzt: „Wenn eine mentale Erschöpfung rechtzeitig erkannt und behandelt wird, dann halte ich eine Fortsetzung einer Profi-Karriere für sehr gut möglich.“

Bereits nach den tragischen Ereignissen im Herbst 2009 war ein Ruck durch Deutschland gegangen. Jetzt hoffen die Experten, dass die längst wieder ins Stocken geratene Sensibilisierung des öffentlichen Bewusstseins neuen Schwung erhält.

„Wir haben noch immer Patienten, die unter einem anderen Namen geführt werden“, erklärt Schneider. Aufklärungsarbeit, wie sie zum Beispiel die Robert-Enke-Stiftung initiiert, hält Schneider für unabdingbar. „Die Leute müssen verstehen, dass eine Depression sehr gut behandelbar ist, wie eine Grippe.“

Markser sieht vor allem die Sportvereine und Verbände in der Pflicht. „Bei den massiven Belastungen im Leistungssport müssen schon Jugendliche viel mehr sportpsychiatrisch und -psychotherapeutisch betreut werden“, meint Markser: „Zahlreiche seelische Belastungen und Störungen machen sich durch körperliche Beschwerden bemerkbar.“ Der Blick auf die Gesamtbelastung für einen Sportler müsse geschärft werden. Es gehe nicht um die Psychiatrisierung des Sports, sondern um die Anerkennung der seelischen Belastungen als festen Bestandteil des Leistungssports.

Auch Biermann sagt: „Der Fall Markus Miller ist mit Sicherheit kein Einzelfall. Ich gehe davon aus, dass es im Fußball denselben prozentualen Anteil an Menschen mit mentalen Problemen gibt wie in der Gesellschaft. Aufgrund des besonderen Leistungsdrucks sind es wahrscheinlich sogar mehr.“