Gesundheitspreis-Kandidaten - Heute: Die Selbsthilfegruppe der Awo
Ahrensburg. Schallendes Gelächter dringt aus dem Raum im oberen Stockwerk des Peter-Rantzau-Hauses. Es ist Dienstagvormittag. Hinter der Tür ist die Selbsthilfegruppe für depressiv erkrankte Menschen zum wöchentlichen Treffen zusammengekommen. Gerade hat ein Teilnehmer berichtet, wie er nach langer Suche eine Flasche Möbelpolitur in seinem Kühlschrank wiederfand. Gedankenlosigkeit und Konzentrationsschwächen seien Begleiterscheinungen der Depression, sagt Kursusleiterin Christiane Tiemann. 24 Frauen und neun Männer im Alter von 21 bis 75 Jahren betreut Tiemann in insgesamt drei Gruppen. Die Dienstagvormittags-Gruppe bewarb sich gerade um den Gesundheitspreis 2011, ausgeschrieben vom Ärztenetz Ahrensburg und der Bürgerstiftung Region Ahrensburg.
1984 rief Tiemann die Selbsthilfegruppe ins Leben, selbst betroffen von der psychischen Erkrankung. "Damals gab es keine Angebote für Depressive", sagt die 64-Jährige, die längst auf die Einnahme von Psychopharmaka verzichten kann. Heute gehören Depressionen zu den Volkskrankheiten. Die Zahl der Patienten, die wegen Depressionen im Krankenhaus behandelt wurden, ist laut Krankenhausreport 2011 der Barmer GEK seit dem Jahr 2000 um rund 117 Prozent gestiegen. Insgesamt entfielen rund 17 Prozent aller Behandlungstage auf psychische Störungen, die damit Herz-Kreislauf-Erkrankungen als häufigsten Behandlungsanlass längst abgelöst haben.
Eine Depression beginne meist damit, dass sich der Betroffene körperlich krank fühle, sagt Tiemann. "Er ist ohne Antrieb, müde, alles wird für ihn zum Problem: Aufstehen, Einkaufen, mit anderen in Kontakt treten." Die Folge seien Isolation, Suizidgedanken, Hoffnungs- und Empfindungslosigkeit. "Am Ende herrscht vor allem ein Gefühl vor: Ich kann überhaupt nichts mehr", sagt die Hausfrau und Mutter, die sich über ein Kontaktstudium der humanistischen Psychologie an der Universität Hamburg erste Fachkenntnisse aneignete.
Viele ihrer Teilnehmer haben bereits Therapieaufenthalte in Kliniken hinter sich, sind in ärztlicher Behandlung. Für manche sei die Erkrankung eine einmalige Episode, andere müssten ein Leben lang Medikamente gegen das drohende Stimmungstief nehmen, sagt Tiemann. "Man kann damit leben, wenn man weiß, wo im Alltag die Fallen sind, wo ein Abrutsch droht." Die Selbsthilfegruppe betreibe Vorsorge, um den Sturz ins Loch zu vermeiden. Das Wichtigste und gleichzeitig Schwierigste sei das Trainieren anderer Verhaltensweisen. Dabei seien der Austausch und das Lernen voneinander wesentliche Bestandteile der Gruppenarbeit.
Beim "Blitzlicht" zu Beginn jeden Treffens berichte jeder von seinen Problemen, Sorgen, aber auch Glücksmomenten der vergangenen Woche. "Wir Teilnehmer erfahren hier mehr voneinander, als manch Partner oder Arzt je wissen wird", so Katrin Jaeger im Bewerbungsschreiben für den Gesundheitspreis. Allen gehe es darum, wiederkehrende kritische Situationen besser zu bewältigen, sich Krisen auslösender Umstände bewusst zu werden.
Das kostenlose Selbsthilfeangebot, gefördert von der Arbeiterwohlfahrt, schließe eine Versorgungslücke im Gesundheitssystem, sagt Tiemann. "Die Zeit für Gespräche reicht beim behandelnden Arzt nicht aus, Therapieplätze sind knapp." Gleichwohl ersetze die Gruppe keine ärztliche oder therapeutische Behandlung. Doch sie fördere die Eigeninitiative im Umgang mit einer Krankheit, die von Hausärzten häufig nicht erkannt werde. Männliche Betroffene würden ihre Erkrankung sogar oft vertuschen. Tiemann: "Ich wünsche mir mehr Verständnis für depressiv Erkrankte. Diese Krankheit kann jeden erwischen, schneller als gedacht."
Die Landesmittel für das Awo-Angebot seien fürs kommende Jahr um 3000 Euro gekürzt worden. Umso mehr hofft die Selbsthilfegruppe auf das Preisgeld des Gesundheitspreises. Es soll, so sind sich Teilnehmer und Kursleiterin einig, in Fortbildungsmaßnahmen und Fachbücher investiert werden. Außerdem würden sie davon gesundheitsfördernde Maßnahmen finanzieren. "Das könnten Entspannungsmethoden, Meditation, Selbstverteidigungstechniken oder Coaching zum persönlichen Auftreten sein", sagt Tiemann. Denn eine Erkenntnis eint die Männer und Frauen der Dienstagvormittags-Gruppe: Verantwortung fürs eigene Wohlergehen zu übernehmen bedeutet Arbeit an sich selbst.