Der Freitod von Enke schockte vor einem Jahr Hannover 96 und die Nationalelf. Der Weg in die Normalität war für DFB und 96 ein anderer.
Hannover. Es war, als habe nicht nur die deutsche Fußball-Welt an jenem 10. November 2009 und den folgenden Tagen still gestanden. Der Selbstmord von Nationaltorwart Robert Enke rief überall Bestürzung und Trauer hervor. Von den psychologischen Folgen besonders betroffen waren Enkes Mitspieler und Trainer bei der Nationalelf und bei Hannover 96 gleichermaßen. Die Wege zurück in die Normalität aber waren verschieden. „Wir sind alle geschockt, uns fehlen die Worte“, hatte Manager Oliver Bierhoff kurz nach der Todesnachricht die Stimmung im Kreis der DFB-Auswahl beschrieben. In einem neuen Hotel in Bonn, wo sich die Mannschaft auf Freundschafts-Länderspiele gegen Chile und gegen die Elfenbeinküste vorbereiten wollte, waren Spieler und Trainer kurz nach dem ersten Training vom Tod ihres unter Depressionen leidenden Kollegen geschockt worden.
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Enke war nicht nominiert, eine bakterielle Infektion war damals als Grund für verpasste Länderspiele angeführt worden. Die erschütternde Nachricht sorgte für gespenstische Stimmung im „Kameha Grand“, in dem die Nationalspieler die ersten und einzigen Gäste waren. An Fußball war nicht mehr zu denken, das Spiel gegen Chile wurde abgesagt, die geschockten Spieler für einige Tage zurück in ihre Heimatorte geschickt. Gegen die Elfenbeinküste spielte die deutsche Elf wie in Trance. „Niemand fühlt sich in der Lage, in dieser Situation einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das ist ein Moment, bei dem man auch im Fußball innehalten muss“, mahnte Löw damals.
Der Bundestrainer, den die Frage nach dem Warum heftig beschäftigte, war von der menschlichen Tragödie tief betroffen. Sieben Monate später bei der WM sprach niemand mehr von Enke, offiziell war das Thema verschwunden. Im Team, in dem Enke die Nummer eins gewesen war, hütete nun Manuel Neuer von Schalke 04 das Tor. Das DFB-Team begeisterte in Südafrika ohne Enke und stürmte bis auf Platz drei. Es schien, als seien die Geschehnisse beim DFB schneller und vor allem besser verarbeitet worden als bei Enkes Club. Doch Kleinigkeiten zeigten durchaus, dass Enkes Freitod intern tiefere Spuren hinterließ. So gab es im Ringen um die Nummer eins im deutschen Tor seit langem kein böses Wort mehr, keine Kampfansage.
Bei 96 galten wenige Woche zuvor nach dem am letzten Spieltag gesicherten Klassenverbleib die ersten Gedanken dem verlorenen Mitspieler. „Wir haben dieses Spiel für einen Mann gewonnen. Und der heißt Robert Enke und ist jetzt im Himmel“, sagte Enke-Nachfolger Florian Fromlowitz nach dem 3:0 am 8. Mai in Bochum. Der Bundesligist hatte eine Horror-Saison hinter sich. Nach Enkes Tod gelang 13 Spiele lang kein Sieg. Mitspieler verloren noch Wochen danach in der Öffentlichkeit die Fassung. An professionelles Training war teilweise nicht zu denken. „Es war nicht leicht, die Mannschaft zu erreichen“, offenbarte 96-Sportdirektor Jörg Schmadtke. Erst jetzt scheint 96 in der Normalität angekommen. „Wir haben jetzt wieder eine Mannschaft. Sie ist intakt“, sagte Clubchef Martin Kind jüngst. Aktuell ist Hannover in der Liga Zehnter. Rückblickend hatte Kind Fehler eingestanden: „Im Nachhinein würde ich mit kritischer Distanz empfehlen, einiges anders zu machen, als wir es getan haben.“
Vor allem die Trauerfeier vor rund 40.000 Zuschauern in der AWD-Arena und Millionen vor den TV-Schirmen schien eine zu große Bürde für die Spieler gewesen zu sein. Anders als beim DFB-Team wurden die ehemaligen Mitspieler bei 96 täglich mit der Trauer, dem menschlichen, aber auch dem sportlichen Verlust konfrontiert. Spaß beim Training galt lange als verpönt. Das Nationalteam ging nach dem Spiel gegen die Elfenbeinküste für Monate auseinander. Jeder konnte das Geschehene persönlich, mit Freunden, der Familie, Mitspielern und Verantwortlichen in den einzelnen Clubs verarbeiten. Erst im März gab es zum Testspiel gegen Argentinien in München ein Wiedersehen. Während 96 täglich trauerte, bereitere sich die Nationalelf professionell auf die WM vor. Dabei zeigte sich durchaus Veränderungen, wie auch der vom DFB seit Jahren verpflichtete Psychologe Hans-Dieter Hermann erkannt hat. Die Spieler würden durchaus eher Hilfe suchen, wenn der Druck zu groß wird. Auch mit Kollegen würden Dinge intensiver ausgetauscht. Vor allem in der in Deutschland immer mit viel Aufmerksamkeit begleiteten Torwartfrage waren Veränderungen sichtbar. Aggressive Töne der Kontrahenten Manuel Neuer, René Adler und Tim Wiese untereinander sind anscheinend tabu.