Michael Kempter behauptet, sexuell bedrängt worden zu sein. Sein Förderer Manfred Amerell sagt: “Er hat mich gemocht, vielleicht auch geliebt“.
Er war 23 Jahre alt, als er das erste Mal ein Fußballspiel in der Ersten Liga leiten durfte. Michael Kempter, der jüngste Bundesliga-Schiedsrichter aller Zeiten. Der mit der Hahnenkamm-Frisur, den die Fans im Stadion des Öfteren fröhlich besungen haben: "Schiri, du hast die Haare schön." Der neue Super-Star unter den Pfeifenmännern in Deutschland. "Der konnte um die Ecke gucken, war frech und sehr durchsetzungsfähig", bekommt man zur Antwort, wenn man Weggefährten fragt, warum dieser junge Mann aus Sauldorf am Bodensee eine solch atemberaubende Karriere gemacht hat. Eine, die ihn am 1. Januar dieses Jahres sogar auf die Fifa-Liste katapultierte. Mit gerade einmal 27 Jahren und wiederum als jüngster deutscher Schiedsrichter, der jemals vom Weltverband für die Leitung internationaler Spiele berufen worden ist. Weil er, wie ein ehemaliger Bundesliga-Schiedsrichter schwärmt, "Fouls und Spielsituationen oft antizipiert hat".
Jetzt liegt Michael Kempter am Boden, weil ihm genau diese Eigenschaft für das Leben außerhalb des Spielfeldes nicht beschieden war. Er ist übel gefoult worden und sein Gegenspieler heißt Manfred Amerell, über den der "Tagesspiegel" geschrieben hat, dass "sein Gesicht einem Granitblock ähnelt, in den man ein paar Konturen geschlagen hat". Spätestens seit dem freiwilligen TV-Auftritt des 62-Jährigen, der sein Amt im Schiedsrichter-Ausschuss des Deutschen Fußball-Bundes am 12. Februar - wohl alles andere als freiwillig - niederlegte, ist dieser Rosenkrieg eine überaus öffentliche Angelegenheit. Über den gleichnamigen Kinofilm mit Michel Douglas und Kathleen Turner schrieb die "Chicago Sun Times" 1989, die Komödie habe viele witzige Momente, doch sei sie zeitweise so grausam, dass man nicht lachen könne.
Von einer Komödie kann man in der Sache Kempter gegen Amerell weiß Gott nicht sprechen, und die Veröffentlichung des intimen E-Mail-Verkehrs in Zeitungen und bei TV-Talker Johannes B. Kerner am späten Donnerstagabend muss für Michael Kempter die Hölle gewesen sein. Denn wenn der junge Mann dem Älteren am 17. November 2007 um 11.51 Uhr geschrieben hat, "jetzt Schatz, für dich würde ich alles tun, für ein Weib nicht den Finger krümmen", dann gerät er plötzlich selbst in Erklärungsnot. Zu oft hatte er in den letzten Wochen in Interviews betont, dass er nicht homosexuell sei. Und zu eindeutig erschien bisher die Rollenverteilung, die Kempter zum alleinigen Opfer in dieser verhängnisvollen Affäre machte.
Schließlich hatte der Bankkaufmann, der in der Woche Kunden der Sparkasse in Pfullendorf die Riester-Rente erklärt, nach eigener Aussage andere junge Schiedsrichter beschützen wollen, die ebenfalls von Amerell unter Druck gesetzt worden seien. "Ich wollte verhindern, dass sich jemand etwas antut", sagte Kempter. Unter Tränen habe ihm ein Nachwuchs-Schiedsrichter seine Probleme mit Amerell anvertraut. Deshalb packte Kempter am 17. Dezember bei Volker Roth, dem Vorsitzenden des Schiedsrichter-Ausschusses aus und trat damit eine Lawine los.
Mittlerweile haben drei weitere Schiedsrichter eidesstattliche Versicherungen abgegeben, in denen sie erklärten, sie seien von Amerell sexuell belästigt worden, was dieser vehement bestreitet. So steht Aussage gegen Aussagen, und sicher ist bisher nur eines: Mit jeder neuen Enthüllung über das deutsche Schiedsrichterwesen wird immer deutlicher eine Art "Geheimbund" (DFL-Ligapräsident Reinhard Rauball) sichtbar, in dem es sehr wenig Transparenz und sehr viele Abhängigkeiten gibt. "Sie haben absolut recht", sagte DFB-Chef Theo Zwanziger vor zwei Wochen im Abendblatt-Interview auf die Frage, ob das strikte Männerbündische im Fußball solche Fälle wie Amerell befördere.
Die Tabus seien das Problem, so Zwanziger, und nicht die Neigungen. "Und dieses Tabu ist gerade im Fußball so ausgeprägt, weil es diese klassischen Männerstrukturen gibt. Mit Macht, mit dem ewigen Besser-sein-wollen, mit Überlegenheitsdenken."
In diesem hierarchischen Umfeld ist es mit demokratischen Strukturen nicht weit her, da wird Widerspruch nicht geduldet. "Wenn man an der falschen Stelle das Falsche sagt, ist man weg", beschreibt ein Insider das "geschlossene Schiedsrichter-System, das über Jahre gewachsen ist".
Hinzu kommt, dass Manfred Amerell im Schiedsrichter-Ausschuss an entscheidender Stelle gesessen hat. Er war sowohl in der Junioren-Bundesliga als auch in der Regionalliga für den Einsatz der Unparteiischen und auch der Schiedsrichter-Beobachter zuständig. "Das sind die Schnittstellen zum bezahlten Fußball", sagt ein Kenner der Szene, der Amerell als "launisch und machtbesessen" beschreibt, aber auch als jemand, der "vielen Jungen geholfen hat". Hier entscheide sich nämlich, in welche Richtung die Karriere eines jungen Schiedsrichters geht und ob jemand das Zeug zum Bundesliga-Schiri habe. Da könne es schon mal vorkommen, dass man dem Beobachter vor der Partie die Empfehlung mit auf dem Weg gebe: "Pass mal auf, das ist ein hoffnungsvoller junger Nachwuchsmann, nicht dass du da in deiner Beurteilung Mist machst."
Für DFB-Generalsekretär Wolfgang Niersbach ist das der Kern der Debatte: "Hier geht es eindeutig um ein Abhängigkeitsverhältnis, genauso wie zwischen Lehrer und Schüler. Auch hier wird benotet und bewertet, und dann geht es eben nicht mehr um ein freiwilliges Verhältnis von zwei Menschen, sondern eindeutig um Amtsmissbrauch."
Amtsmissbrauch? Dazu hat Amerell erklärt: "Kempters Leistungsstand war so exorbitant hoch, dass er meine Hilfe gar nicht nötig hatte, um in die Fifa-Schiedsrichterliste zu kommen."
Die Suche nach der Wahrheit, nach Opfer und Täter, geht also weiter. Und aller Voraussicht nach werden staatliche Ermittler irgendwann Licht ins Dunkel bringen. Denn am Donnerstag endete das Verfahren zwischen dem DFB und Amerell über eine Einstweilige Verfügung zwar mit einem Vergleich. Dem Verband ist es demnach weiterhin erlaubt, zu behaupten, Amerell habe mehrere Schiedsrichter sexuell bedrängt oder belästigt. Im Gegenzug aber verpflichteten sich die DFB-Vertreter gegenüber Amerell, "unverzüglich die Originale der eidesstattlichen Versicherungen mit den Namen" der ihn belastenden Personen preiszugeben.
Und darum ging es Amerell und seinem Anwalt Jürgen Langer. Vorbereitet wird jetzt eine Klage gegen die vier Schiedsrichter, die ihn der sexuellen Belästigung beschuldigen. Am Montag will er laut "Süddeutscher Zeitung" mit der anwaltlichen Prüfung der eidesstattlichen Versicherungen beginnen, die ihm das Landgericht München zur Einsicht überlassen hat. "Danach wird geklagt. Als Erster ist Michael Kempter dran", sagte Amerell im Online-Portal der "SZ".
Schon jetzt hat er den jungen Unparteiischen mit der Veröffentlichung des E-Mail-Verkehrs derart zu Fall gebracht, dass es nur schwer vorstellbar ist, dass sich Kempter davon wieder erholt. In einer Nachricht soll der 27-Jährige vor der 0:2-Niederlage von Bayern München in der Champions League am 11. April 2007 gegen den AC Mailand an Amerell geschrieben haben: "Hoffentlich fliegen die Bayern gleich raus, dann können wir anstoßen."
Natürlich werden sich nach dieser Enthüllung nun die DFL und der FC Bayern mit dem jungen "Unparteiischen" und dessen möglicher Abneigung gegen den deutschen Rekordmeister befassen. Reinhard Rauball und Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge einigten sich gestern in einem Telefonat laut Rauball darauf, "dass unter anderem das Thema Kempter unter Einschluss der öffentlich gemachten E-Mails im Rahmen der Gesamtaufarbeitung der 'Thematik Schiedsrichterwesen' bei der kommenden Präsidiumssitzung zur Sprache gebracht wird".
Und der DFB, der die Behauptung Amerells, er sei bei seinem Rücktritt erpresst worden, als "falsch" zurückwies, setzte den zunächst für das Zweitliga-Spiel am Sonntag zwischen Union Berlin und dem MSV Duisburg vorgesehenen Kempter wieder ab. Für ihn wird der Hamburger Patrick Ittrich die Partie leiten.
Ob Michael Kempter, der beteuert, von Anfang an die sexuellen Annäherungen des Älteren abgelehnt zu haben, überhaupt noch einmal ein Spiel im bezahlten Fußball pfeifen wird? "Amerell hat ja angekündigt, wenn er untergeht, nimmt er mich mit. Das macht er mit diesen Mails jetzt wahr", sagt er. Freunde beschreiben ihn, der mit seinem fünf Jahre jüngeren Bruder noch zu Hause bei seinen Eltern wohnt, als "eher schüchtern, der erst auf dem Platz zu einer Persönlichkeit mutierte, die alles im Griff hatte".
Und dessen geplanter Befreiungsschlag zum bitteren Eigentor geworden ist. In einem Spiel, das am Ende nur Verlierer hervorbringen wird.