Bargteheide. Bewegender Briefwechsel erzählt die Geschichte von Wilhelm Harder, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Flüchtling in Bargteheide lebte.
Adventszeit 2024, das bedeutet für viele Stormarner ein warmes Zuhause mit viel Lichterglanz, geschmückte Tannen und den Duft gebrannter Mandeln und anderer Leckereien auf den Weihnachtsmärkten in den Städten und Gemeinden des Kreises. Doch so war es nicht immer.
Daran erinnert ein bewegender Briefwechsel der Familie Harder, den jetzt Mitglieder der Geschichtswerkstatt Bargteheide im Fundus des Stadtmuseums entdeckt haben. Die Dokumente führen zurück in die Zeit kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Und erzählen eine andere Weihnachtsgeschichte – voller Entbehrungen, Ängsten und Sehnsüchten.
Familie wandert nach Kanada aus und findet ihr Glück
Wilhelm Harder gerät als Soldat bei Kriegsende in Gefangenschaft. Anfang 1946 kommt er nach Bargteheide. Dort findet er eine Anstellung als Knecht bei Bauer Kruse im Kaffeegang. Ihm gehe es relativ gut, lässt er in seinen Briefen an verschiedene Verwandte wissen. Doch die Ungewissheit über den Verbleib seiner beiden Söhne Wilhelm, genannt Willi, geboren 1935, und Herbert, geboren 1937, lässt ihn nicht zur Ruhe kommen.
Zuletzt gesehen hat er sie Weihnachten 1944 in Halbstadt/Westpreußen. Dort lebte die Familie in einer mennonitischen Gemeinde im Regierungsbezirk Danzig. Harder hofft, dass ihnen die Flucht über die Ostsee gen Westen gelungen ist. Deshalb macht er sich auf die Suche, ist oft in Hannover und Holstein unterwegs. Er fragt bei den Behörden nach und beim Roten Kreuz. Doch niemand kann ihm weiterhelfen.
Erstes Lebenszeichen der Söhne nach fast zwei Jahren
Dann erfährt er, dass die Flucht missglückt ist. Während seine Frau Frida im August 1945 stirbt, kommen die Söhne, zurück in Westpreußen, anfangs beim Großvater unter, später bei einem Nachbarn. Mitte September 1946 erreicht ihn dann ein Brief von Willi und Herbert. „Das erste direkte Lebenszeichen meiner Kinder. Ich habe vor Freude geweint“, schreibt Harder seiner Schwägerin Irmgard in Dänemark.
Um auf den Tag des Wiedersehens mit seinen Jungs gut vorbereitet sein, spart der Vater, was er von seinen 50 Reichsmark Monatslohn erübrigen kann. Das bessert er zudem durch den Verkauf seiner Raucherzuteilung auf. Davon hat er unter anderem eine Fuhre Torf, zwei Zentner Roggen und vier Zentner Kartoffeln angeschafft.
Zustände für die Flüchtlinge aus dem Osten sind furchtbar
Sorgen macht ihm indes die Unterbringung. Er selbst bewohnt nur eine „kalte Bude“. Es sei sehr schwer, eine „menschliche Wohnung“ zu bekommen. Die Zustände für die Flüchtlinge seien furchtbar. Hauptsache sei aber, seine Buben zu Weihnachten wieder bei sich zu haben: „Das wäre meine größte Freude.“
Dann erhält er die Nachricht, dass die Söhne in Begleitung der 25-jährigen Gerda Driedger am 23. November ein Auffanglager im russisch besetzten Thüringen erreicht haben. Die Weiterfahrt werde sich wegen einer angeordneten Quarantäne nach mehreren Typhusfällen aber deutlich verzögern. „Mein Warten auf die Jungs wird auf eine harte Probe gestellt“, notiert er.
Wieder ein Weihnachten ohne die Kinder
Inzwischen ist es ihm gelungen, ein Zimmer zu mieten, in dem er die beiden unterbringen kann. „Es ist nur klein, aber möbliert und sehr gemütlich, sogar ein eiserner Ofen ist drin“, schreibt Harder. Nebenbei hole er Holz aus dem Wald und hacke es klein zum Verfeuern.
Am 6. März 1947 ist es dann so weit: Gerda Driedger trifft mit Willi und Herbert nach einer langen, strapaziösen Zugreise in Bargteheide ein. „Die Kinder freuten sich sehr, nach langer Zeit wieder unter einem Federbett zu schlafen. Ich schlafe dann auf der Chaiselogne“, so Harder.
Vier Personen müssen sich sieben Quadratmeter teilen
Doch die beengten Wohnverhältnisse belasten den Vater zusehends. „Wir haben immer nur noch unsere sieben Quadratmeter Raum, wo wir mit vier Personen wohnen, schlafen und kochen müssen. Wenn jemand von uns einen Schritt im Zimmer gehen will, muss erst ein Gegenstand weitergerückt werden“, schildert er die über Monate anhaltende Situation.
Weihnachten 1947 können die Harders zwar in einer Wohnung in der Jersbeker Straße mit einem zwölf Quadratmeter umfassenden Zimmer und einer großen Wohnküche feiern. Für den Festtagsbraten wird ein Hahn geschlachtet. Sogar etliche Geschenke finden ihren Weg auf den Gabentisch, zumeist aufgebracht aus Spenden der gut organisierten, freikirchlichen Mennonitengemeinde.
Viele Einheimische gönnen den Flüchtlingen nichts
Dennoch leidet Wilhelm Harder unter dem oft abweisenden Umgang der Einheimischen mit den Flüchtlingen aus den Ostgebieten. „Die Hiesigen gönnen uns Flüchtlingen doch gar nichts. Wer nicht selbst was hat oder sich besorgen kann, der kommt zu nichts“, schreibt er Anfang Februar 1948 frustriert. Immer wieder lässt er in den Briefen durchblicken, dass er sich vorstellen kann, mit seinen Söhnen nach Kanada auszuwandern.
Die finden unterdessen rasch Anschluss in Bargteheide. „Wir haben uns schnell angefreundet“, berichtet Detlef Höppner, der damals ein Nachbar der Harders war. „Ich hatte einen großen Stabilbaukasten, damit haben wir stundenlang gespielt“, erinnert sich der heute 86-Jährige. Gemeinsam habe man Schwimmen gelernt und in der Erntezeit beim Bauern geholfen.
Für die Kinder ist es eine glückliche Zeit voller Abenteuer
„Für uns Kinder war das nach all den Entbehrungen und Ängsten in der Zeit des Krieges eine spannende und glückliche Zeit voller Abenteuer“, so Höppner. Er könne aber verstehen, dass die Väter und Mütter der Flüchtlingskinder das Leben in der Fremde mit anderen Augen gesehen haben. „Es gab viele einheimische Familien, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollten. Weil sie in ihnen keine Deutschen, sondern Slawen gesehen haben“, weiß Höppner.
„Wilhelm Harder hatte zudem immer große Angst vor den Russen, die nach dem Kriegsende Schleswig-Holstein in ihre Besatzungszone holen wollten“, sagt Höppner. Zum Glück seien aber Engländer und Schotten schneller gewesen und hätten Bargteheide und den Kreis Stormarn bereits Anfang Mai 1945 besetzt. „Dennoch hat Harder für sich und seine Söhne keine Zukunft hier gesehen“, so Höppner.
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Mithilfe der mennonitischen Gemeinde in Ontario sind die Harders im April 1953 schließlich nach Kanada ausgewandert. Mehr als drei Jahrzehnte werden sich Höppner und die Harder-Jungs aus den Augen verlieren. Bis sie sich 1987 am Rande eines Pfadfindertreffens in Kanada erneut begegnen.
Bis zuletzt die Familiengeschichte in Westpreußen recherchiert
„Wir haben uns sofort wiedererkannt, es war ein großartiger, unvergesslicher Augenblick“, erinnert sich Höppner. Nur ein Jahr später sei Herbert zum Gegenbesuch nach Deutschland gekommen und 2004 auch zum Klassentreffen in Bargteheide. „Dank des Internets standen wir dann wieder in regelmäßigem Kontakt bis zu seinem Tod im März 2021“, sagt Höppner.
Der große Autofan Herbert Harder, der jenseits des Atlantiks mehr als 50 Jahre bei Ford gearbeitet hat, habe in Kanada sein Glück und eine zweite Heimat gefunden. Die Verbindung zu seinen Wurzeln sei aber nie abgerissen. „Bis zuletzt hat er die Familiengeschichte in Westpreußen recherchiert und die Nachkriegsjahre in Bargteheide als prägende Lebensetappe nie vergessen“, so Detlef Höppner.