Norderstedt. Tierärzte rieten Michelle Menger, ihr Pferd einschläfern zu lassen. Sie entschied sich dagegen. Die berührende Geschichte.
- Michelle Menger aus Norderstedt hat beim Pferdefest in Bad Segeberg mit ihrem blinden Pony Joschi gewonnen.
- Dem Pferd mussten beide Augen herausoperiert werden.
- Joschi litt an einer periodischen Augenentzündung.
Michelle Menger hält die Schleife in den Händen, die sie vor eineinhalb Wochen beim Pferdefest in Bad Segeberg gewonnen hat. Die 28-Jährige streicht die drei gelben Bänder glatt, die an der Auszeichnung hängen. „Sie symbolisieren Gold“, erklärt Menger „sie stehen für den ersten Platz.“ Den hat sie nämlich gemeinsam mit ihrem Pony Joschi belegt. Die Norderstedterin lächelt verlegen. So, als könnte sie es immer noch nicht glauben. „Ja“, sagt sie und nickt, „das ist etwas ganz Besonderes.“
Sie befestigt die Gold-Schleife an Joschis Zaum. Wie besonders ihr Turniersieg wirklich ist, erkennt man erst auf den zweiten Blick. Wenn man das Pferd, das mittlerweile 21 Jahre alt ist, genauer betrachtet. Denn Joschi ist blind. Das Pony hat keine Augen mehr. Dort, wo normalerweise die Augäpfel sitzen, sind nur zwei leere, mit Fell bewachsene Höhlen zurückgeblieben.
Blindes Pony Joschi aus Norderstedt siegt beim Reitturnier
2014 ist Michelle Menger zum ersten Mal aufgefallen, dass Joschis linkes Auge milchig aussah und gerötet war. „Der Tierarzt hat uns Salbe und Schmerzmittel verschrieben. Danach war alles besser“, sagt sie. Aber nur für kurze Zeit. Die periodische Augenentzündung kehrte zurück. Ein zweites und drittes Mal. Schließlich suchte Menger mit ihrem Deutschen Reitpony die auf Augen spezialisierte Tierklinik in Sottrum bei Bremen auf. Dort stellte man fest: Nicht nur das linke Auge ist entzündet, auf dem rechten Auge ist Joschi bereits blind. „Das ist vorher nie aufgefallen. An seinem Verhalten hat man nichts gemerkt“, erzählt Menger.
Die niederschmetternde Diagnose: In absehbarer Zeit wird Joschi vollkommen erblinden. „Die Tierärzte haben mir gesagt, ich könne mir überlegen, ob ich ihn hier gleich vor Ort einschläfern lassen möchte oder lieber zu Hause“, berichtet seine Besitzerin. Sie war am Boden zerstört. Joschi und sie sind doch schon so lange ein Team. Die besondere Bindung zwischen ihnen begann mit einer Reitbeteiligung, als Michelle Menger elf Jahre alt war. Vier Jahre später kaufte die Familie das Tier.
Joschi werden beide Augen entfernt
Sie nahm Joschi mit nach Hause. Nur zwei, drei Wochen nach der Diagnose hörte er auf zu sehen. „Das ging schneller, als wir gehofft hatten. Er hat sich plötzlich nicht mehr aus seiner Box getraut“, erzählt die Wirtschaftsjuristin, die im Bereich Datenschutz tätig ist. Das Gespann wechselte den Stall, in eine kleinere Herde. Im Oktober 2016, an Halloween, ließ Menger schließlich Joschis linkes Auge in der Pferdeklinik in Wahlstedt herausoperieren. „Das ist mir sehr schwergefallen“, sagt sie. Nicht ganz drei Jahre später folgte das rechte Auge. Fortan lebte das Pferd in völliger Dunkelheit.
Aber: „Joschi war viel lebensfroher“, berichtet Menger. Eigentlich wollte sie ihm einfach die Chance geben, ein schönes Leben auf einer Wiese zu führen. „Aber ihm wurde langweilig“, sagt sie und lacht. Die Pferdeliebhaberin begann, mit ihrem Pony wieder zu trainieren. Schon früher sind sie auf Turnieren gesprungen und Dressur geritten. Springen geht zwar nicht mehr. Aber sie übt mit Joschi am Boden. Schließlich meldete sie sich mit ihm beim Breitensportturnier auf dem großen Landesturnierplatz in Bad Segeberg für die sogenannte „Working Equitation“ an. Der Wettbewerb besteht aus zwei Prüfungen: einer Dressur und einem Trail.
Menger und Joschi setzen sich gegen knapp 30 Teilnehmer durch
Bei dem Trail mussten Joschi und Menger gemeinsam acht verschiedene Hindernisse bewältigen. Über eine Brücke steigen, eine Gasse rückwärts reiten oder ein Tor öffnen und schließen. Sie traten gegen knapp 30 Starterinnen und Starter an. Alle anderen Pferde konnten sehen.
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Bei der Siegerehrung ehrte die Turnierleitung zuerst die hinteren Platzierungen und arbeitete sich langsam nach vorne. „Ich dachte, die haben mich vergessen“, sagt Menger, die fest damit gerechnet hatte, im Mittelfeld zu landen. Doch sie und Joschi wurden als Sieger ganz zum Schluss aufgerufen. Und erhielten die besonders schöne Schleife mit den drei gelben Bändern. „Das war toll“, sagt Michelle Menger. „Die Richterin hat zu mir gesagt, dass sie gar nicht gemerkt habe, dass Joschi blind ist.“
Menger hat für ihren Joschi gekämpft. Sie hat sich entgegen der Meinung aller Tierärzte und Reiter in ihrem damaligen Stall dafür entschieden, ihr Pony nicht einschläfern zu lassen. Joschi weiter das Leben zu schenken. Menger hat auf ihr Bauchgefühl gehört, das ihr stets sagte, dass es ihm gut geht. Er zurechtkommt. Sie sollte recht behalten. Mit dem Turniersieg in Bad Segeberg hat sie sich und der Welt bewiesen, was der blinde Joschi in der Lage ist zu leisten.
Norderstedt: Pony hört auf Stimmkommandos
Heute wohnt Joschi auf dem Hof Riebling in Norderstedt. Es scheint, als wisse er genau, wo sich auf der Weide sein Heu und die Zäune befinden. Wenn Michelle Menger spricht, legt er seinen Kopf schief. So als wollte er ihr genau zuhören. Das Pony verlässt sich auf seine Ohren und seine Nase. Sie geben ihm das nötige Selbstbewusstsein. „Anfangs hat er sich mal den Kopf gestoßen. Dann hat er sich geschüttelt und ist in die andere Richtung gelaufen. Sein Wesen ist sehr gelassen“, sagt Menger.
Es mache keinen großen Unterschied für sie, ein blindes oder sehendes Pferd zu reiten. „Ich achte mehr auf die Bodenverhältnisse und muss ihn noch konzentrierter lenken. Ansonsten ist es wie bei jedem anderen Pferd“, sagt sie. Damit Joschi Hindernisse erkennt, gibt sie ihm Stimmkommandos. Um zu demonstrieren, wie gut das funktioniert, legt die Reiterin eine Stange auf den Boden. Sie führt Joschi an sie heran, dann ruft sie „Achtung!“. Das Pony hebt die Vorderhufen und steigt problemlos über das Hindernis. Als es kurz davor ist, gegen einen Schuppen zu laufen, brüllt Menger „Vorsicht!“ – sofort bleibt Joschi stehen.
„Er ist ein glückliches Pferd. Ich bin froh, dass ich ihn nicht habe einschläfern lassen“, sagt die Norderstedterin. Ob der Turniersieg ihr Genugtuung gebe, nachdem zunächst alle der Meinung waren, Joschis Pferdeleben sei nicht mehr lebenswert? Menger denkt nach. „Nein“, sagt sie, „ich bin einfach glücklich, dass es ihm gut geht.“