Norderstedt. Prozess um grausamen Unfall auf „Todesstrecke“ in Norderstedt im Oktober 2023: Warum ein 52-Jähriger auf der SH-Straße den Tod fand.

Zum Ende des Prozesses um jenen grausamen Unfall vom 27. Oktober 2023 auf der Schleswig-Holstein-Straße in Norderstedt, steht die Witwe des Todesopfers auf und verliest mit Blick auf den angeklagten 25-Jährigen eine Erklärung. Die Witwe wirkt sichtlich angespannt und sieht mit leerem Blick in den Saal. Gerichtet an den Angeklagten, sagt sie schließlich: „Sie haben mir meinen Mann weggenommen. Sie haben mein Leben zerstört. Sie haben unsere glückliche Ehe kaputtgetreten.“

Der Schmerz der Frau bricht sich im Gerichtssaal Bahn. Sie wünscht dem 25-Jährigen, dass er sich immer an den Unfall und den damit verbundenen Schmerz erinnere. Er solle erfahren, was wirkliche Einsamkeit bedeute. Aber sie wünsche ihm irgendwann auch das Licht am Ende des Tunnels. Eine Entschuldigung des Angeklagten werde sie nach so vielen Monaten nicht mehr annehmen. Nach ihrer Aussage bricht sie in Tränen aus.

Trauernde Witwe: Hochemotionale Gerichtsverhandlung

In diesem Transporter verstarb der 52-Jährige aus Henstedt-Ulzburg.
In diesem Transporter verstarb der 52-Jährige aus Henstedt-Ulzburg. © Daniel Friedrichs | Danfoto

Die erschütternde Aussage der Witwe beschließt eine hochemotionale Gerichtsverhandlung vor dem Amtsgericht, in der sich der Angeklagte, ein 25-jähriger Maschinenführer aus Neumünster wegen fahrlässiger Tötung verantworten musste. Für alle Beteiligten war die Rekonstruierung der Vorgänge an jenem 27. Oktober 2023 auf der als „Todesstrecke“ verrufenen Schleswig-Holstein-Straße eine Zumutung.

Der Angeklagte war am frühen Morgen gegen 5.30 Uhr auf der Schleswig-Holstein-Straße in Fahrtrichtung Hamburg kurz vor der Einmündung der Harksheider Straße mit seinem VW Golf auf die Gegenfahrbahn geraten. Der Golf kollidierte daraufhin mit einem entgegenkommenden Sattelzug aus Tangstedt. Aufgrund dieses Zusammenstoßes verlor der Fahrer des Lastwagens die Kontrolle über sein Fahrzeug und geriet ebenfalls auf die Gegenfahrbahn.

Dort rammte der Lkw drei weitere Autos, darunter den Mercedes-Transporter eines 52-Jährigen aus Henstedt-Ulzburg. Der 40 Tonnen schwere, mit Sand beladene Sattelzug schob den Transporter auf den angrenzenden Grünstreifen und kippte schließlich auf den Transporter. Der 52-jährige Fahrer verstarb an seinen schweren Verletzungen noch an der Unfallstelle. Alle anderen Beteiligten erlitten nur leichte Verletzungen.

Angeklagter hat keine Erinnerungen an Unfallhergang

Warum der Angeklagte von der Fahrbahn abkam, ist zunächst ungeklärt. Die Staatsanwaltschaft warf dem 25-Jährigen vor, übermüdet gewesen und daher in einen Sekundenschlaf gefallen zu sein. Laut Staatsanwalt Cornelius Marks habe der Angeklagte gegen die Sorgfaltspflicht verstoßen, indem er die Anzeichen eines nahenden Sekundenschlafes ignoriert und durch seine Fahruntüchtigkeit das Leben anderer Menschen gefährdet habe.

Der 25-Jährige selbst beschrieb den Tag des Unfalls als „Tag wie jeden anderen“, an dem er um 4.30 Uhr aufgestanden sei, um zur Frühschicht von Neumünster nach Norderstedt zu fahren. Er sei am Abend zuvor gegen 21.30 Uhr ins Bett gegangen und habe sich am Morgen nicht ungewöhnlich müde gefühlt. Wie es zum Unfallhergang kam, habe er nicht mehr in Erinnerung. „Ich weiß nur noch, dass es zu einem sehr lauten Knall kam und ich mich dann mit meinem Pkw gedreht habe“, sagt der junge Mann mit stockender Stimme.

Tödlicher Unfall in Norderstedt: Leben komplett verändert

Die Schleswig-Holstein-Straße glich einem Trümmerfeld.
Die Schleswig-Holstein-Straße glich einem Trümmerfeld. © Daniel Friedrichs | Danfoto

Der 25-Jährige kämpft die gesamte Verhandlung über mit den Tränen und ist sichtlich mitgenommen. Sein Leben habe sich am Morgen des Unfalls komplett verändert, sagt er in seiner Eingangserklärung, in der er zunächst der Witwe des Verstorbenen sein tiefstes Mitgefühl ausspricht. Er habe sich vor der Verhandlung nicht getraut, sie zu kontaktieren.

„Ich weiß, dass nichts, was ich sage, Ihren Schmerz und Verlust lindern kann. Glauben Sie mir, wenn ich diesen Tag aus unseren Leben löschen könnte, würde ich es sofort tun“, sagt er unter Tränen. Das Geschehene zu verarbeiten sei für den Angeklagten sehr schwer gewesen, weshalb er zunächst mit Suizidgedanken gekämpft und sich in psychologische Behandlung begeben habe, die bis heute andauere.

Vorwurf des Sekundenschlafs steht im Raum

Ob der Unfallfahrer damals tatsächlich aufgrund eines Sekundenschlafs auf die Gegenfahrbahn geraten war, kann im Gerichtsprozess nicht abschließend geklärt werden. Der Fahrer des am Unfall beteiligten Lastwagens sagte aus, er habe kurz nach dem Vorfall mit dem Angeklagten gesprochen. Und dieser habe ihm gesagt, dass er nur kurz eingeschlafen sei und jetzt sein ganzes Auto kaputt wäre. Der Angeklagte sagte aus, sich an dieses Gespräch nicht erinnern zu können.

Auch gegenüber der Polizeibeamtin, die im ersten Einsatzwagen an der Unfallstelle war, solle der Angeklagte geäußert haben, er glaube, eingeschlafen zu sein. Er sei sehr aufgewühlt und emotional gewesen, so die Beamtin vor Gericht. Eine Frau, die das Auto hinter dem Angeklagten gefahren hatte, sagte aus, der Angeklagte sei schon ungefähr einen Kilometer vor der Unfallstelle kurz auf die Gegenspur gefahren und habe dann ruckartig zurückgelenkt. Sie habe daraufhin den Abstand zu dem Golf verringert, da ihr das Fahrverhalten seltsam vorgekommen sei.

Technische Analyse: Angeklagter alleiniger Unfallverursacher

Eine Analyse des Kfz-Sachverständigen Thomas Hilker ergibt, dass die Auslösung des Unfalls allein auf das Fahrverhalten des Angeklagten zurückzuführen sei. Die seitliche Kollision des Golfs mit der Zugmaschine des Lkw sei so stark gewesen, dass es für den Führer des Lkws unmöglich gewesen, das Lenkrad zu halten, so Hilker.

Er schließt somit eine mögliche Mitschuld des Lastwagenfahrers an der Kollision mit dem Fahrzeug des Verstorbenen aus. Hilker erklärt, dass die Annahme des Sekundenschlafes zum Unfallgeschehen passe, da der Einschlagwinkel des Golfs ein langsames Überqueren der Mittellinie zeige. Das sei typisch für eine kurzzeitige Unaufmerksamkeit.

Staatsanwalt forderte anderthalb Jahre Freiheitsstrafe auf Bewährung

Die weiteren Fahrer der am Unfall beteiligten Fahrzeuge erlitten einen Schock sowie leichte Verletzungen.
Die weiteren Fahrer der am Unfall beteiligten Fahrzeuge erlitten einen Schock sowie leichte Verletzungen. © Daniel Friedrichs | Danfoto

Der Angeklagte richtet seine letzten Worte in der Verhandlung erneut an die Witwe des Verstorbenen. Er entschuldigte sich unter Tränen und betont wiederholt, dass er den Unfall nicht gewollt habe. Er übernehme die Verantwortung für seine Taten und hoffe, dass die Witwe ihm eines Tages vergeben könne.

Die Staatsanwaltschaft sieht nach Abschluss der Verhandlung den Vorwurf der fahrlässigen Tötung sowie den Sekundenschlaf als Auslöser des Unfalls vollumfänglich bestätigt. Staatsanwalt Marks fordert daher eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten zur Bewährung, sowie eine einjährige Sperre zur Neuerteilung der Fahrerlaubnis und eine Zahlung in Höhe von mindestens 4.000 Euro an die Witwe des Verstorbenen. Der Nebenklägervertreter, Theiß Hennig, geht noch weiter und fordert eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten zur Bewährung sowie eine Sperrfrist nach Führerscheinentzug von drei Jahren.

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Prozess Norderstedt: Tatbestand der fahrlässigen Tötung erfüllt

Richterin Dr. Elisa Kuhne verkündet abschließend das Urteil von einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung mit einer Bewährungszeit von drei Jahren. Zusätzlich erteilt sie dem Angeklagten ein sechsmonatiges Fahrverbot, dass allerdings seit dem Unfall bereits abgelaufen ist. Der 25-jährige wurde zudem zu einer Geldstrafe von 4500 verurteilt, die er innerhalb von 30 Monaten an die deutsche Verkehrswacht in Norderstedt zahlen muss.

Kuhne begründet ihr Urteil damit, dass der Angeklagte sich an diesem Tag zweifach im Straßenverkehr falsch verhalten habe und eindeutig allein für den Unfall verantwortlich gewesen sei. Der Tatbestand der fahrlässigen Tötung sei somit klar erfüllt. Da allerdings nicht sicher bewiesen werden könne, warum der Angeklagte in den Gegenverkehr gefahren sei, liege keine fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung vor. Der Angeklagte sei zudem Ersttäter, für den die Belastung durch den Unfall und das Gerichtsverfahren bereits als starke Abschreckung wirke. Die Strafe habe sie daher zur Bewährung ausgesetzt.