Tangstedt. Urlaub von der Front: Erik Kovalenko aus Kiew besucht seine Familie in Tangstedt. Wieso er nun innerlich zerrissen ist.
Ein kleiner Moment, Sekunden nur, und plötzlich ist der Krieg ganz weit weg. Als Erik (42) seine sieben Monate alte Tochter Erika in die Luft wirft und sie vor Freude laut jauchzt, ist er glücklich. Einen kurzen Moment lang. Es sind Sekunden wie in einer Blase, in diesem Augenblick gibt es nur ihn und sein Kind, keine Sirenen und einschlagenden Bomben, keinen Krieg und keine Toten. Ein Moment, kurz wie ein Wimpernschlag. Dann holt ihn alles wieder ein. Die Realität, die Welt draußen, jenseits seiner kleinen Blase.
Manchmal hat er das Gefühl, dass es ihn zerreißt. Dass er nicht weiß, wo er hingehört. Hier, zu seiner Familie in Tangstedt – oder zu seinem Land, das sich ihm Krieg befindet. Vor zwei Wochen durfte er die Ukraine verlassen, um seine Frau Nataliia (38) und seine Tochter Erika in Deutschland zu besuchen.
Ukraine: Von der Front zu Besuch in Tangstedt
Die beiden sind kurz nach Ausbruch des Krieges aus der Ukraine geflohen und und auf Initiative eines Geschäftsmannes in Tangstedt untergekommen. Der Unternehmer hatte auf eigene Kosten das Hotel Tangstedter Mühle für zwei Monate angemietet, um dort 50 Flüchtlinge einzuquartieren.
Weil sich das Amt Itzstedt und die Hotelbetreiber danach nicht über die Rahmenbedingungen für eine weitere Unterbringung einigen konnten, mietete das Amt verschiedene Häuser und Wohnungen für die Flüchtlinge in der Gemeinde an.
109 Tage lang hat Erik seine Familie nicht gesehen
Nataliia Kovalenko und ihre Tochter Erika wohnen seitdem in einem Haus in Wilstedt-Siedlung – gemeinsam mit zwei anderen Frauen und deren Kindern. 109 Tage lang hat Nataliia ihren Mann nicht gesehen, 109 Tage lang hat Erika ihren Vater nicht gesehen. Es ist mehr als ihr halbes Leben.
Es ist ein Mittwoch, als Nataliia Kovalenko um 8.43 am Ginsterweg den Kinderwagen mit Erika in den Bus der Linie 378 hievt und Richtung Hauptbahnhof fährt. In zwei Stunden wird sie dort Erik treffen, sein Bus ist die ganze Nacht durchgefahren. Nataliia hat Erika einen Rock angezogen, sie soll heute besonders hübsch aussehen. Sie ist jetzt sieben Monate alt.
Erst Scharfschütze, jetzt Familienvater
Bis zuletzt hat sie Angst gehab, ob er wirklich kommt. Ob es wirklich klappt und er eine Ausreisegenehmigung bekommt. Denn seit Beginn des Krieges gibt es ein Ausreiseverbot für Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren.
Erik ist 42. Er hat eine Ausnahmegenehmigung bekommen, weil er drei minderjährige Kinder hat: die siebenmonatige Erika – und zwei Kinder aus seiner ersten Ehe. Illia (12) und Daniil (17). Auch sie leben in Tangstedt, gemeinsam mit ihrer Mutter Lena, Eriks erster Frau. Die beiden Frauen und ihre Kinder teilen sich ein Haus.
Als Nataliia und Erika aus der Ukraine geflohen sind, konnte Erik nicht mitkommen. Er hat in den letzten Monaten Hilfsgüter an die Front gebracht – und selbst eine Ausbildung zum Scharfschützen gemacht. Wenn er über sein Gewehr spricht, nennt er es manchmal sein „Mädchen“. Im Moment ist das Gewehr das Zuverlässigste und Treueste, das es in seinem Leben gibt
Als Erik seine Tochter verlassen hat, war sie ein Baby
Erik ist schon da, als Nataliia am Zentralen Omnibus Bahnhof eintrifft. Als sie ihn sieht, beschleunigt sie ihre Schritte, die letzten Meter rennt sie fast. Im Laufen holt sie ihr Handy aus der Tasche. Sie will den Moment festhalten, wenn sich Erik und Erika wiedersehen. Ihre Lieblingsmenschen nennt sie die beiden.
Es ist 10.44 Uhr, als sich Erik über den Kinderwagen beugt und mit zittrigen Händen die Gurte löst. Beim letzten Mal war Erika noch ein Baby und lag im Kinderwagen, jetzt sitzt sie aufrecht. Als Erik sie hochnimmt und sein Gesicht an ihres drückt, reagiert sie nicht. Immer wieder küsst er sie, versucht Blickkontakt mit ihr aufzunehmen. Doch Erika dreht den Kopf weg und schaut zu Nataliia. Ihr Vater ist ein Fremder für sie.
Erik ist mit den Gedanken in der Ukraine
Zwei Wochen ist das jetzt her, doch wenn Erik das Video anschaut, komme ihm immer noch die Tränen. Es war nicht leicht für ihn zu akzeptieren, dass Erika sich nicht an ihn erinnern kann. Nachdem sie geboren wurde, war er immer bei ihr.
Erika fällt es leicht, sich an ihn zu gewöhnen. Aber Erik fällt es schwer, sich einzugewöhnen.
Es ist zwar hier, aber noch nicht richtig angekommen. Mit seinen Gedanken ist er in der Ukraine, immer, permanent, ohne abzuschalten. Immer wieder schaut er auf sein Handy, liest Nachrichten, gibt Informationen weiter, bespricht sich mit seiner Einheit. „Er kommuniziert mit dem Militär“, sagt Nataliia.
Er hofft, dass sich seine Tochter an ihn erinnern wird
Sein neues Leben in Tangstedt fühlt sich an wie in einem Paralleluniversum. Fast unwirklich.
„Das Leben hat sich so dramatisch verändert, dass sich das Gehirn weigert, die Realität wahrzunehmen.“ Mit diesen Worten hat Nataliia Kovalenko kurz nach ihrer Ankunft in Deutschland den Krieg in der Ukraine und ihre Flucht aus ihrem Heimatland beschrieben. Jetzt geht es Erik so wie ihr.
Manchmal macht Erik Pläne für die Zukunft. Dann sagt er, dass er das Haus streichen will und den Rasen neu aussäen möchte. Vielleicht können sie ein Planschbecken für Erika aufstellen. Dann ist er für einen Moment glücklich. Bis ihn alles wieder einholt. Dann sagt Erik, er hofft, dass sich Erika eines Tages an ihn erinnern wird.
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Nataliia hat Angst, dass Erik sie wieder verlässt
Es sind Momente, in denen Nataliia fast durchdreht. Wenn er so spricht, macht sie einen „Skandal“. Das ist der Begriff, den die Sprachapp für sie übersetzt. Sie will nicht, dass er wieder geht – dass er sie verlässt. So wie im Februar, als er sie und die Kinder bei den ersten Angriffen der Russen aus Kiew rausholte und in ein abgelegenes Haus in den Bergen an der Grenze zu Rumänien brachte.
Als er zwei Tage später sagt, neues Brot holen zu wollen, glaubte Nataliia ihm. Bis es später und später wird und er nicht wiederkommt. Dann erfährt sie, dass er in den Krieg gezogen ist.
Es ist nicht leicht, über all das zu sprechen. Aber es ist wichtig, damit man sie versteht. Damit man versteht, warum sie die Entscheidung getroffen haben. Die Entscheidung, dass Erik nicht zurückgeht. Dass er hier bleibt, in Deutschland, in Sicherheit, bei seiner Familie.
Krieg gegen die Ukraine: Erik ist vom Dienst freigestellt
Erik möchte, dass man ihn richtig versteht. Deswegen bittet er seinen Sohn Daniil zu übersetzen. Damit es keine Missverständnisse gibt. Er hat Angst, dass man ihn für einen Feigling hält, für einen Deserteur. Immer wieder schüttelt er den Kopf, sucht nach passenden Worten. Er liebt die Ukraine und will für sein Land kämpfen. Aber er liebt auch seine Familie und möchte mit ihr zusammen sein. Er ist hin und her gerissen.
Er ist offiziell vom Dienst freigestellt. Er muss nicht länger in der Ukraine bleiben, sondern darf das Land verlassen, so lange er es für richtig hält. Doch manchmal weiß er selbst nicht, was richtig ist...
Eine schnelle Rückkehr scheint ausgeschlossen zu sein
Anfangs, in den ersten Tagen des Krieges, hatten sie gehofft, dass Nataliia und die Kinder sicht nur ein paar Tage verstecken müssten und die Angriffe schnell wieder enden würde. Dann, nach ihrer Flucht in den Westen, hatten sie gebetet, dass sie nur ein paar Wochen oder Monate getrennt sein würden und sie dann zurückkehren könnten. Jetzt glaubt das niemand mehr von ihnen. Ihre Hoffnung wurde genauso zerstört wie Straßen und Häuser. Eine Rückkehr in den nächsten Jahren scheint ausgeschlossen.
Nataliia hat angefangen, für Erik einen Job zu suchen. Vor dem Krieg haben sie in der Ukraine Wohnmobile vermietet und begleitete Touren durch das Land organisiert. Nataliia ist PR-Managerin und hat Erik bei dem Aufbau des Unternehmens unterstützt. Sie hofft, dass Erik hier Arbeit in dem Bereich findet. Ein Vorstellungsgespräch hat sie bereits für ihn arrangiert. Er sagt nicht viel dazu, wenn sie spricht.
Was sich Ukrainer Erik zum Geburtstag wünscht
Nach vier monatiger Trennung müssen sie sich wieder aneinander gewöhnen. Nataliia musste in den letzten Wochen alles alleine machen, jedes Problem selbstständig lösen. „Erik ist es gewohnt, Befehle zu geben“, sagt Nataliia und lacht. Sie scherzt. Das Glück macht sie fast verrückt.
Sie hat in ein paar Tagen Geburtstag, er zwei Tage später. Sie werden keinen Kuchen haben und keine Kerzen ausblasen. Aber sie werden sich trotzdem etwas wünschen. Dass der Krieg so schnell wie möglich beendet wird. Sie wollen die Hoffnung nicht aufgeben.