Norderstedt. Acht Fraktionen in Norderstedt – die Stadt- und Gemeindevertretungen zersplittern. Was das für die Demokratie auf kommunaler Ebene bedeutet.

Noch vor der Kommunalwahl soll das Land prüfen, ob wieder eine Sperrklausel für die Wahl der Stadt- und Gemeinderäte eingeführt wird. Das fordert der Schleswig-Holsteinische Landkreistag vom neuen Landtag und einer neuen Landesregierung und hat dabei die Kommunalwahlen 2023 im Blick. Die örtlichen Entscheidungsgremien wie Stadt- und Gemeindevertretungen zersplitterten immer mehr, was „einer sachlichen Arbeit abträglich ist“.

Tatsächlich gehört das klassische Politquintett schon seit Jahren der Vergangenheit an. CDU, SPD, FDP, Grüne und Linke bestimmen nicht mehr allein, sie haben Zuwachs bekommen: unabhängige Wählergruppen, freie Wählervereinigungen, alternative Listen, Dorfgemeinschaften, überall erwächst den etablierten Parteien heimatlich verbundene und lokal denkende Konkurrenz.

Die Mehrheitsfindung wird mühselig, Beschlüsse brauchen länger

In Norderstedt mischen die Wählergemeinschaften Wir in Norderstedt (WiN), die Freien Wähler sowie die AfD mit. Es gilt, unter acht Fraktionen Mehrheiten zu finden. Und immer wieder kommt es zu Abspaltungen, unter anderem in Norderstedt, Henstedt-Ulzburg und im Segeberger Kreistag. So hat der Norderstedter Stadtvertreter Sven Wojtkowiak die FDP verlassen und sich den Freien Wählern angeschlossen. Auch die CDU hat mit Volker Schenppe einen Stadtvertreter verloren – und damit ihre Mehrheit. Der Dissident macht alleine weiter. In Henstedt-Ulzburg gründete sich Ende 2012 die Wählervereinigung Bürger für Bürger (BfB), die meisten Mitglieder kamen aus der Wählergemeinschaft WHU. Und auch im Kreistag gibt es seit der letzten Kommunalwahl mit der Wählervereinigung Segeberg (WiSe) eine zusätzliche Kraft.

Wählervereinigungen und kleine, lokale Gruppierungen hatten bis 2008 keine Chance auf Mitbestimmung in den ehrenamtlich besetzten kommunalpolitischen Gremien. Sie scheiterten an der Fünfprozenthürde. Das Bundesverfassungsgericht hatte die Fünfprozenthürde auf Antrag der schleswig-holsteinischen Grünen und Linken 2008 für die kommunale Ebene gekippt, sie verletze die Chancengleichheit kleinerer Parteien und sei verfassungswidrig. Gültig bleibt sie für Bundestags- und Landtagswahlen.

Ehrenamtliche Politiker könnten zunehmend die Lust an der Politik verlieren

Nun nimmt der Landkreistag einen neuen Anlauf, die Sperrklausel für die Wahlen zu Kreistagen sowie Stadt- und Gemeindevertretungen einzuziehen. Das Gremium fürchtet, dass der ehrenamtliche Einsatz für das Leben in den Städten und Dörfern ausbluten könnte, weil die Zersplitterung die Arbeit mühseliger mache und es wegen der Meinungsvielfalt erschwere, die für die Kommunen wichtigen Beschlüsse zu fassen. „Viele engagierte Ehrenamtler würden vor diesem Hintergrund ernsthaft erwägen, sich bei der Kommunalwahl nicht wieder um ein Mandat zu bewerben“, sagte Ingo Degner, stellvertretender Vorsitzender des Landkreistages.

Ein Vorstoß, der unter Norderstedts Politikern weit überwiegend auf Ablehnung stößt. „Ich sehe das im Moment ganz entspannt. Eine Zersplitterung hätte man wahrscheinlich auch bei fünf Prozent,“ sagt Nicolai Steinhau-Kühl, Fraktionschef der SPD (zehn Sitze in der Stadtvertretung). Aktuell brauche eine Partei in Norderstedt gut zwei Prozent, um einen Sitz in der Stadtvertretung (39 Sitze) zu bekommen. Um Fraktionsstatus zu erlangen, seien zwei Sitze nötig, also ein Stimmanteil zwischen vier und fünf Prozent, bei vielen Überhangmandaten ein bisschen weniger. Viel würde sich bei einer Fünf-Prozent-Sperrklausel in Norderstedt also nicht ändern. „Ich sehe dafür keine Notwendigkeit.“

„Eine solche Klausel würde sich ohnehin nur in den größeren Städten und Gemeinden wie Norderstedt oder Henstedt-Ulzburg auswirken. In den Dörfern ist das Verhältnis von Sitzen zu Einwohnern so, dass meist mehr als fünf Prozent der Stimmen für einen Sitz nötig sind“, sagt Marc Muckelberg, Fraktionsvorsitzender der Grünen (fünf Sitze in der Stadtvertretung). Zudem würde eine Sperrklausel nicht verhindern, dass sich Gruppierungen abspalten. „Im Sinne der Meinungsvielfalt sollte es so bleiben, wie es ist. Dass es schwieriger ist, Kompromisse zu finden und Beschlüsse zu fassen, gehört zur Demokratie dazu.“

Reimer Rathje, Fraktionschef der WiN (fünf Sitze), plädiert dafür, dass sich alle Wählermeinungen in den politischen Gremien widerspiegeln sollten: „Bei einer Fünf-Prozent-Klausel könnten kleine und nur lokal aktive Wählergemeinschaften rausfallen. Das könnte Wähler verprellen, was wir uns bei der ohnehin niedrigen Wahlbeteiligung nicht leisten sollten.“

Viele Norderstedter Politiker lehnen eine Änderung ab

„Natürlich macht die Anzahl von derzeit acht Fraktionen in der Norderstedter Stadtvertretung die Arbeit nicht einfacher. Wir diskutieren, wir streiten, aber wir kommen doch immer zu Ergebnissen! Die Verwaltung bleibt immer handlungsfähig“, sagt FDP-Fraktionschef Tobias Mährlein (zwei Sitze).

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Thomas Thedens, Fraktionschef der Freien Wähler (2 Sitze), hält vom Vorschlag des Landkreistages „gar nichts“. Von einem erschwerten politischen Arbeiten könne keine Rede sein. „Sowohl in der Norderstedter Stadtvertretung wie auch im Kreistag Segeberg sind jeweils acht Fraktionen. Und wir sind in keiner Weise lahmgelegt, können wunderbar arbeiten.“ Natürlich müsse man für eine Mehrheitsfindung jetzt mit mehreren Fraktionen sprechen, aber das sei für eine Demokratie doch eher förderlich statt hinderlich. Ähnlich sieht es Norderstedts AfD-Fraktionschef Sven Wendorf (zwei Sitze): „Gerade auf kommunaler Ebene sollte im Sinne der demokratischen Teilhabe eine starke Bürgerbeteiligung gewährleistet sein, daher lehne ich eine Fünfprozenthürde ab“, sagt er.

„Wer sich an die guten alten Zeiten zurück erinnert, in denen es entweder eine absolute CDU- oder SPD-Mehrheit gab, der könnte auf die Idee kommen, die Sperrklausel wieder einzuführen“, sagt Miro Berbig, Fraktionschef der Linken. Das Bundesverfassungsgericht habe festgestellt: Die bloße „Erleichterung“ oder „Vereinfachung“ der Beschlussfassung reiche nicht aus, um den mit der Fünf-Prozent-Sperrklausel verbundenen Eingriff in die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit der politischen Parteien zu rechtfertigen. „Natürlich ist es auch für die Politik schwieriger, zu einem tragfähigen Meinungsbild und damit zu einer Willensbildung zu kommen. Das hängt aber nicht an der Fünfprozenthürde, sondern daran, dass die ehemaligen Mehrheitsparteien CDU und SPD ihre Wähler verloren haben. Würden die vernünftige Politik machen, bräuchte man uns gar nicht!“

CDU-Fraktionschef Peter Holle (10 Sitze) ist der einzige, der das Plädoyer der Landkreistages für die Sperrklausel nachvollziehen kann: „Demokratie lebt zwar von Vielfalt, aber auch von Entscheidungen. Das, was vielerorts passiert, sind leider Kompromisse auf kleinstem Nenner und diese sind nicht immer hilfreich.“

Und im Kreistag? „Da schlagen zwei Herzen in meiner Brust“, sagt Segebergs Kreispräsident Claus-Peter Dieck. Eine Sperrklausel würde die „bunte Vielfalt“ verhindern. Zudem fühlten sich Gruppen mit geringen Stimmanteil nicht wertgeschätzt, wen sie außen vor bleiben müssten. Zum anderen erschwere die Zersplitterung die Arbeit. Dieck: „Jetzt haben wir acht Fraktionen im Kreistag. Was aber, wenn es 12 oder 14 sind? Sind wir dann noch handlungsfähig?“