Hamburg. Behörden sichten vermehrt russische „Forschungsschiffe“ in der Ostsee und Drohnen über Brunsbüttel. Warnung vor „Schattenflotte“.

Eigentlich soll die Crew gleich in den Feierabend starten. Die Fahrt von Bundesumweltministerin Steffi Lemke mit Journalisten zu den Bergungsstätten von Weltkriegsmunition in der Ostsee endet im Hafen von Neustadt. Es ist der letzte Einsatz auf diesem Törn, denkt die Crew. Bis der Alarmruf auf dem Schiff der Bundespolizei eingeht, das heißt wie sein Heimathafen: „Neustadt“. Ein mutmaßliches russisches Spionageschiff, angeblich manövrierunfähig und begleitet von einem russischen Hochseeschlepper, nähert sich von Skagen kommend Fehmarn. Es sind die „Chusovoy“ und die „SB 123“. Der Feierabend der „Neustadt“-Crew ist gestrichen: Das Boot der Bundespolizei eskortiert die Russen vom Fehmarnbelt, bis sie die deutsche „Ausschließliche Wirtschaftszone“ (AWZ) südlich von Bornholm wieder verlassen. Von hier an sind die Dänen zuständig. 

Die „Chusovoy“ und Schlepper „SB 123“ wissen, dass sie an diesem milden Oktobertag im Visier deutscher Behörden sind. Die Bundespolizei wird später auf Abendblatt-Anfrage mitteilen, dass sie keine „ahndungsrelevanten Verstöße gegen die internationalen Bestimmungen für den Seeverkehr“ habe feststellen können. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Überzeugung von Polizei, Marine und Politik: Die Bedrohung durch Spionage und Sabotage hat eine neue Dimension erreicht. Das sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. „Die russische Aggression in Europa hat die Sicherheitslage fundamental verändert“, warnt die SPD-Politikerin. 

Ostsee: Spionage, Sabotage – der Kalte Krieg ist zurück

Die Schiffe heißen „Evgeny Gorigledzhan“, „Sibiryakov“, „Admiral Vladimirsky“ oder „Aleksandr Shabalin“, „Chusovoy“ oder „SB 123“. Mal ist es ein Forschungsschiff, mal ein Schlepper, mal ein Landungsschiff, mal eine Korvette. Ihre Aufgabe, warnen deutsche Sicherheitsexperten, ist aber meist dieselbe: die Ausspähung kritischer Infrastruktur im Auftrag Wladimir Putins mittels sensibler Sonar- und Radartechnik. Der Kalte Krieg ist zurück vor der deutschen Küste. Im Visier der Russen: Daten- und Stromkabel am Boden der Ostsee, Pipelines, Windparks, Terminals, Militäranlagen oder auch der neue Fehmarnbelttunnel, den Dänemark vorantreibt.

Im Visier russischer Spionageschiffe: die kritischen Infrastrukturen auf See wie Windparks, Pipelines oder Seekabel.
Im Visier russischer Spionageschiffe: die kritischen Infrastrukturen auf See wie Windparks, Pipelines oder Seekabel. © ZB | Jens Büttner

Siemtje Möller ist die Parlamentarische Staatssekretärin von Verteidigungsminister Boris Pistorius. Sie berichtet von 107 eskortierten russischen Schiffen in den vergangenen beiden Jahren – fünf durch die Marine, 105 wie bei der Begleitung der „Chusovoy“ und des Schleppers „SB 123“ durch die Bundespolizei. Zu sanktionieren sind die Schleichfahrten der Russen nicht: „Dem Bundesministerium der Verteidigung liegen keine Kenntnisse über Grenzverletzungen oder Verstöße gegen das internationale Seerecht auf dem Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland vor“, antwortet Möller dem CDU-Bundestagsabgeordneten Roderich Kiesewetter auf dessen schriftliche Frage.

Geheimdienste warnen vor russischer Bedrohung

Wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser warnen auch die deutschen Geheimdienste vor der russischen Bedrohung. So berichtet die Präsidentin des Militärischen Abschirmdienstes (MAD), Martina Rosenberg, in der jährlichen Anhörung vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium von „besorgniserregenden Ausspähversuchen fremder Nachrichtendienste gegen die Bundeswehr“. Sie warnt vor Sabotage, die das Ziel verfolge, ein „Gefühl der Unsicherheit zu vermitteln“. Das war in der vergangenen Woche. In derselben Anhörung erklärt der Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND), Bruno Kahl: „Der Kreml sieht den Westen und damit auch Deutschland als Gegner. Ob wir wollen oder nicht: Wir stehen in einer direkten Auseinandersetzung mit Russland“, so der BND-Chef.

Das deutsche Polizeiboot „Neustadt“. Das Einsatzschiff der sogenannten Potsdam-Klasse ist 86 Meter lang und 13,5 Meter breit. Im Heck ist Platz für zwei Schnellboote der GSG 9.
Das deutsche Polizeiboot „Neustadt“. Das Einsatzschiff der sogenannten Potsdam-Klasse ist 86 Meter lang und 13,5 Meter breit. Im Heck ist Platz für zwei Schnellboote der GSG 9. © FUNKE Foto Services | Thorsten Ahlf

„Wir beobachten ein aggressives Agieren der russischen Nachrichtendienste“, erklärt Bundesverfassungsschutzchef Thomas Haldenwang vor den Parlamentariern. „Russische Spionage und Sabotage in Deutschland nehmen zu – qualitativ und quantitativ.“ Haldenwang spricht von Desinformationskampagnen und dem versuchten Platzieren von Sprengstoffpaketen in Transportflugzeugen sowie dem Einsatz von Spionagedrohnen. 

Geheimnisvolle Drohnenflüge über Brunsbüttel

Drohnenflüge über den Brunsbütteler Chemie-Park, das benachbarte LNG-Terminal und das stillgelegte Kernkraftwerk hatten im August und Anfang September Polizei und Politik in Atem gehalten. Ob diese mehr als 100 Kilometer pro Stunde schnellen Fluggeräte Waffen an Bord hatten, Spionagekameras oder Sabotage-Technik – geklärt ist das trotz des Einsatzes von Bundeskriminalamt, Drohnenjägern anderer Bundesländer und des „Nationalen Lage- und Führungszentrums für Sicherheit im Lauftraum“ bis heute nicht. Die offensichtlich militärischen Flugobjekte ließen sich weder identifizieren noch einfangen. Sie waren den staatlichen Abfangdrohnen in Tempo und Wendigkeit weit überlegen. Neben Polizei und Bundeswehr schaltete sich auch die Staatsanwaltschaft Flensburg in den Fall ein und startete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Agententätigkeit zu „Sabotagezwecken“.

„Die Bedrohungslagen sind im Zuge des russischen Angriffskriegs exorbitant gestiegen – davon zeugen auch die Vorkommnisse in Brunsbüttel“, sagt der Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums, der schleswig-holsteinische Grüne Konstantin von Notz. Es habe auch bereits Angriffe auf Glasfaserkabel oder Beschädigungen an Flüssiggasanschlüssen gegeben, so von Notz. „All das sind keine Erzählungen aus irgendwelchen dystopischen Science-Fiction-Romanen, sondern Realität – in Deutschland und in Schleswig-Holstein.“

Andy Grote: Hohe Aktivität ausländischer Nachrichtendienste

Mit Blick auf die Bedrohung durch Russland fordern die Chefs der drei Nachrichtendienste vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium, dem Konstantin von Notz vorsteht, einen besseren Datenaustausch mit der Bundeswehr, eine Befugnis des BND zur Cyberabwehr, die Überwachung der „Telekommunikation gefährlicher Gruppen“ (Haldenwang) und die Auswertung massenhafter Kommunikationsdaten durch KI-gestützte Systeme.

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Die russischen Hochseeschlepper „Alexander Frolov“ und „SB 123“. © IMAGO/depositphotos | Alexey Pevnev

Zuletzt hatten in Hamburg Innensenator Andy Grote (SPD) und Verfassungsschutzchef Torsten Voß vor russischen Spionageaktivitäten gewarnt. Man beobachte eine „hohe Aktivität ausländischer Nachrichtendienste“, sagt Grote und warnt vor einer „erheblichen Bedrohungslage“. Die sieht die Bundesinnenministerin auch in der Ostsee. Für Nancy Faeser ist das Meer vor Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern ein „geopolitischer Hotspot“.

Wie die Bundespolizei auf die Bedrohung reagiert

Seit Putins Angriff auf die Ukraine notiert die Bundespolizei in Schleswig-Holstein „zunehmend relevante russische Schiffsbewegungen“. Das sagt Torsten Tamm, Sprecher der Bundespolizei in Norddeutschland. Das geht auch aus Unterlagen hervor, die dem Abendblatt vorliegen. „Wir gehen davon aus, dass grundsätzlich alle russischen Seefahrzeuge kontinuierliche Aufklärung betreiben.“ Die Bundespolizei überwacht deutsche kritische Infrastrukturen wie auch russische Kriegs-, Staats- und Forschungsschiffe engmaschig. Denn schon mehrfach habe Russland mit Angriffen auf die Infrastruktur gedroht, sagt Tamm. Die Sabotage an den Nord-Stream-Pipelines (durch Ukrainer) und zuletzt die Beschädigung der Balticconnector-Pipeline (durch China) unterstrichen die „Vulnerabilität und die Notwendigkeit eines besseren Schutzes“.

Das Projekt „Russian Spy Ships“

Russland spioniert systematisch Gaspipelines, Datenkabel, Windparks und militärische Infrastruktur vor der deutschen Küste aus. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Rechercheprojekt „Russian Spy Ships“. Hieran hatten sich auch Reporter von NDR, WDR und der „Süddeutschen Zeitung“ beteiligt. Sie haben in großem Stil Satellitenbilder ausgewertet und Daten dekodiert, darunter Tausende Morsesignale russischer Schiffe. Nach ihrer Recherche haben mindestens 72 „Forschungsschiffe“ seit Beginn des Ukraine-Krieges mehr als 400 mutmaßliche Spionagefahrten unternommen. In mindestens 60 Fällen hätten die Schiffe ihr Ortungssystem AIS abgeschaltet, um nicht mehr oder nur noch schwer bei Kriechfahrten mit Zickzack-Manövern geortet werden zu können.

Um die Sicherheit im Seeverkehr zu erhöhen, sind Schiffe ab 300 BRZ mit dem „Automatic Identification System“ ausgerüstet. „Das ermöglicht den automatischen Austausch von nautischen und Reise bezogenen Schiffsdaten und somit eine Identifizierung der Schiffe“, sagt Bundespolizist Tamm. Seine Behörde hat zuletzt mehrfach russische Schiffe mit ausgeschaltetem AIS erwischt, „über Radar erfasst und optisch identifiziert“, so Tamm zum Abendblatt. Wie viele mutmaßliche russische Spionageschiffe in deutschen Hoheitsgewässern oder in der AWZ registriert wurden, will er nicht sagen. Das sei ‚sicherheitsrelevant‘ und als Verschlusssache eingestuft“, sagt Tamm. Bei einer Veröffentlichung wären Rückschlüsse auf die polizeilichen Handlungsoptionen möglich.

Noch kein russisches Schiff festgesetzt

Offiziell zur Ozeanforschung eingesetzt, vermessen die russischen Schiffe bei ihren Kriechfahrten die kritische Infrastruktur, um mögliche Sabotageakte vorbereiten zu können, so der Rechercheverbund „Russian Spy Ships“. Laut dessen Auswertung operierten die russischen Crews häufig in den AWZ der Nord- und Ostsee-Staaten. Und damit in der Nähe von Windparks oder Pipelines. Achtmal seien russische Schiffe zudem in die Territorialgewässer von Deutschland und anderen EU-Staaten eingedrungen.

Die Rechtslage, um gegen die Russen vorzugehen, ist dünn. Und so beschränken sich die Möglichkeiten meist darauf, Schiffe wie die „Chusovoy“ und Schlepper „SB 123“ zu eskortieren. Festgesetzt wurde noch keines der russischen Boote, sagt Bundespolizist Tamm.

Ebenfalls im Fokus der Sicherheitsbehörden sind die Öltanker der russischen Schattenflotte. Zu der gehören nach einer Greenpeace-Untersuchung mehr als 1.000 oft veraltete Schiffe von Reedereien, die nicht unter die internationalen Restriktionen fallen. Russland umgeht mit ihnen die EU-Sanktionen und „exportiert somit keinen Barrel Rohöl weniger als zuvor“, kritisiert der SPD-Bundestagsabgeordnete Daniel Schneider. Der Großteil des geschmuggelten Öls finde seinen Weg nach Indien oder China.

„Vor dem Hintergrund des technisch schlechten Zustandes der Schiffe, mangelhafter Wartung und unzureichendem Versicherungsschutz ist das Risiko einer Havarie enorm”, sagt Schneider. Besonders gefährdet seien Naturschutzgebiete nordöstlich der Mecklenburger Bucht und der Fehmarnbelt. Schneider fordert zu prüfen, wie die geltenden EU-Sanktionen durch die „Listung weiterer Tanker der russischen Schattenflotte verbessert werden können, um den Ölschmuggel durch Russland zu unterbinden und einer Umweltkatastrophe zuvorzukommen”. 

Ostsee: GSG 9 bezieht Quartier in Schleswig-Holstein

Der Krieg wirke wie ein Katalysator auf die russischen Nachrichtendienste, analysiert der Verfassungsschutz. Die Arbeitsintensität, der Umfang und die Komplexität russischer nachrichtendienstlicher Tätigkeiten hätten seit Februar 2022 wesentlich zugenommen. In Deutschland seien die Risiken für Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft deutlich gestiegen. Der Verfassungsschutz warnt vor den „Folgewirkungen“ für Offshore-Windparks, Pipelines, Daten- und Stromkabel, LNG-Terminals oder Häfen. „Die Wirtschafts- und Energiepolitik sowie Technologie sind für russische Dienste interessant“, schreibt der Verfassungsschutz.

Mit Blick auf die maritime Bedrohungslage durch Sabotage und Spionage rüstet die Bundesregierung die Bundespolizei an der Ostsee auf. So soll eine maritime Einsatzgruppe der Spezialeinheit GSG 9 fest in Neustadt stationiert werden. Hier hat auch das gleichnamige, ein Jahr alte Polizeischiff seinen Heimathafen. Von Neustadt aus soll die auf Antiterroreinsätze spezialisierte GSG 9 bei Krisen schneller eingreifen können. Die Seeeinheiten der GSG 9 verfügen über Schnellboote und speziell geschulte Einsatztaucher, die von den Schiffen der Bundespolizei aus operieren könnten.

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Auch die Nato reagierte in dieser Woche wieder einmal auf den Angriffskrieg. So eröffnete Bundesverteidigungsminister Pistorius in Rostock ein neues Hauptquartier der Deutschen Marine, an dem Ostseeanrainer und Nato-Partnerländer beteiligt sind. Die Sicherheit des Ostseeraumes sei für Europa entscheidend, werde aber nahezu täglich durch Russland herausgefordert, sagte Pistorius bei der Eröffnung des neuen taktischen Hauptquartiers. Es seien fast 1000 Tage seit der russischen Militärinvasion vergangen, und es sei klar, dass sich der Krieg für Putin nicht nur gegen die Ukraine richte. „Sein wirklicher Feind ist unsere freie, unabhängige und demokratische Lebensweise“, sagte Pistorius. (mit dpa)