Solingen/Brokstedt. Michael Kyrath hat seine Tochter in der Bahn in Brokstedt verloren – erstochen von einem Palästinenser. Er greift die Politik scharf an.
Für Michael Kyrath waren Sonnabend und Sonntag „Theaterstück-Tage“. So nennt der 49-Jährige desillusioniert die Tage der öffentlichen Empörung und politischen Trauer, wenn wieder Menschen gestorben sind, weil sie zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort waren. Wenn Politiker an einen Tatort eilen, Blumen niederlegen und Konsequenzen versprechen – das nennt Michael Kyrath theaterähnliche Inszenierungen.
Wie jetzt in Solingen, wo ein Mann mit einem Messer drei Menschen tötete, nur weil sie auf einem Volksfest ein bisschen Spaß haben wollten. Oder wie gerade einmal drei Monate zuvor in Mannheim, wo ein Mann einen Polizisten hinterrücks erstochen hat. Oder wie vor 19 Monaten in Brokstedt. Was die Fälle eint: die Mordwaffe, die Täter, die Umstände, die Beileidsbekundungen, die versprochenen Konsequenzen. In Solingen war es ein Syrer, in Mannheim ein Afghane, in Brokstedt ein staatenloser Palästinenser. In allen Fällen war die Integration misslungen, war das Mordwerkzeug ein Alltagsgegenstand: ein Messer.
Kyrath regt sich auf, wenn nach Solingen, Mannheim oder Brokstedt von „bedauerlichen Einzelfällen“ die Rede ist. Oder davon, dass „niemand etwas ahnen konnte“. Oder davon, dass jetzt „mit aller Härte durchgegriffen“ werde. Michael Kyrath darf sich aufregen – seine Tochter saß in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg, als ein Mann in Höhe des Brokstedter Bahnhofs hinterrücks angriff und sie und ihren Freund ermordete. Mit 27 Messerstichen hat Ibrahim A. allein die 17-jährige Ann-Marie getötet, im Prozess sprach der forensische Experte von „Übertötung“ oder „Overkill“.
Michael Kyrath ist desillusioniert. Kämpferisch ist er aber auch.
Brokstedt-Opfer: Nach den Messermorden von Solingen – Ein Vater klagt an
Das Versprechen des Kanzlers, der Innenministerin oder anderer verantwortlicher Politiker, dass „jetzt mit aller Härte durgegriffen“ werde, hält er für hohl, für falsch – auch wenn er hofft, dass er sich irrt und die Ankündigungen in Gesetze einfließen werden. Bislang habe sich nach den Verbrechen jedenfalls nichts getan. Oder zu wenig. „In vier, acht oder 16 Wochen werden wir dasselbe wieder hören wie nach Mannheim oder Solingen. Es sind stets dieselben Theaterstücke, die aufgeführt werden“, befürchtet der Vater des 17 Jahre alten Mordopfers in absehbarer Zeit den nächsten Messerangriff und dieselben Reaktionen.
„Brokstedt, Mannheim, Solingen sind nur die bekanntesten Fälle. Aber es gab viel mehr. Bei mir haben sich seit dem Mord an meiner Tochter Ann-Marie und ihrem Freund Danny mehr als 300 Elternpaare gemeldet, die in den letzten fünf oder sechs Jahren Kinder verloren haben. Es ist nahezu immer dasselbe Täterprofil gewesen, nahezu immer dasselbe Tatwerkzeug, dasselbe Motiv, derselbe Tathergang. Und es sind nahezu immer dieselben Floskeln, die wir hinterher von Politikern hören“, kritisiert der Unternehmer.
Messermord von Brokstedt: Enger Kontakt zu anderen Familien, deren Kinder ermordet wurden
Unmittelbar nach den Morden von Solingen klingelte das Telefon bei Kyraths in Elmshorn unentwegt. Dran waren andere Eltern. „Schon wieder ist es passiert“, hieß es dann. Familie Kyrath pflegt engen Kontakt zu anderen betroffenen Müttern und Vätern. Darunter sind auch die Eltern der 14-jährigen Ece, die von einem eritreischen Flüchtling auf dem Schulweg erstochen wurde. Oder die Angehörigen von Jonas, der in Oggersheim erstochen wurde, oder die von Anne und Noah in Schleswig. „Es gibt so viele Parallelen“, sagt Kyrath.
Rückblende: 2013 flieht Ibrahim A., heute 34, aus Gaza, er schafft es über die Türkei, Griechenland und die Balkanroute bis Deutschland. Hier jobbt er als Paketbote, bei einem Schlosser, auf dem Bau. Nichts ist von Dauer. Ibrahim A. begeht Straftaten, aber Auswirkungen auf seinen Schutzstatus als Flüchtling hat das nicht – weil Behörden und Justiz in mehreren Bundesländern gleich mehrfach versagen. Als der Mann aus Gaza, gerade erst aus der Haft entlassen, in Kiel – bewaffnet mit einem Messer aus dem Supermarkt – in den Zug nach Brokstedt steigt und über Fahrgäste herfällt, hatte er zumindest moralisch das Gastrecht längst verwirkt – auch wenn das juristisch aufgrund der Fehlerkette nicht so war. Ibrahim A. hat den Kyraths die Tochter genommen.
Scharfe Kritik an Innenministerin Faeser: „Verhalten schockierend!“
Bundesinnenministerin Nancy Faeser eilte im Januar 2023 an den Tatort in Schleswig-Holstein. Und genauso schnell war sie auch wieder weg. „Ich hätte erwartet, dass sie Kontakt zu uns Eltern sucht. Dass sie sich mit uns zusammensetzt und anhört, was der Verlust mit uns macht und was wir fordern. Und was macht Frau Faeser? Sie stellt sich bedauernd an den Bahnsteig und verschwindet gleich wieder Richtung Berlin“, kritisiert Kyrath. Auf das mehrfache Gesprächsangebot der Angehörigen habe die SPD-Politikerin bis heute nicht reagiert. Er habe Faeser eingeladen, per Mail und per Brief. Er habe sie im Fernsehen um Kontakt gebeten. Nichts sei passiert. „Uns hat sie nicht kondoliert. Sie reagiert nicht und ist auch nicht gesprächsbereit. Das Verhalten ist für uns Eltern schockierend“, kritisiert Kyrath.
Hingegen stehe man mit dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Daniel Günther und seiner Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack sowie mit den Landtagsfraktionen in gutem Austausch. „Wir besprechen die Ideen und Lösungsvorschläge von uns Eltern, deren Kinder ermordet wurden. Ich gebe zu: Vieles ist juristisch schwer umzusetzen“, sagt Kyrath.
Kyrath fordert die vorübergehende Schließung der Grenzen
Eine dieser Forderungen ist die vorübergehende Schließung aller Grenzen. „Wir brauchen knallharte Schritte, um die Kontrolle wiederzuerlangen. Wir müssen uns erst einmal einen Überblick verschaffen, wer überhaupt zu uns gekommen ist und wie diese Menschen untergebracht sind. Wir müssen den Menschen, die in Containerdörfern leben, erst einmal vernünftige Wohnungen besorgen. Wir müssen sie in den Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft integrieren. Wir müssen deren Kinder vernünftig beschulen. All diese Themen sind ungeklärt“, fordert der Vater einer ermordeten Tochter.
Statt die Geflüchteten zu integrieren, landeten die neuen Fälle oben auf dem Stapel. Allein in Schleswig-Holstein sind im Juli 619 Flüchtlinge neu registriert worden. Mehr als die Hälfte von ihnen kommt aus nur drei Ländern: Afghanistan, Syrien und dem Irak. „Die Flüchtlinge in Containerdörfer zu stecken, hat mit Menschlichkeit nichts zu tun. Stattdessen müssen wir ihnen eine Perspektive geben. Aber wir müssen ihnen auch klarmachen: Das sind unsere Werte, die gelten hier für alle. Das ist unsere freiheitlich demokratische Grundordnung. Das ist unsere Art zu leben, all das müssen die zu uns gekommenen Menschen akzeptieren.“
„Wer eine schwere Straftat begeht, muss abgeschoben werden“
Auch nach dem Mord an seiner Tochter und ihres Freundes sei seine Grundeinstellung dieselbe geblieben, sagt Michael Kyrath. Seine Frau und er hätten Ann-Marie zu einem offenen, liberalen und toleranten Menschen erzogen. „Zu diesen Prinzipien stehe ich nach wie vor. Wenn Menschen Hilfe benötigen, muss ihnen Hilfe gewährt werden. Nur: Menschen, die aus Kriegsgebieten fliehen, und dann den Krieg mit hierher bringen und auf unsere Straßen verlagern, verwirken das Recht, hier zu sein.“
Und so fordert Kyrath eine deutlich konsequentere Abschiebepolitik. „Wer seinen Schutzstatus verliert, muss abgeschoben werden, auch wenn ihm in der Heimat politische Verfolgung droht. Die Menschen, die hier leben, müssen wir beschützen. Das geht eindeutig vor dem Individualinteresse von Straftätern“, sagt er. Wenn ein Flüchtling eine schwere Straftat begehe, müssten die staatlichen Organe diesen Menschen außer Landes bringen und damit Recht und Gesetz durchsetzen. Nur passiere das nicht konsequent genug.
Waffenverbotszonen bringen nichts, sagt der Vater
Von Waffenverbotszonen hingegen hält der Unternehmer nichts. „Niemand, der mit einem Messer in der Tasche und der Absicht zu töten losgeht, lässt sich von einem Waffenverbotsschild aufhalten. Ein Waffenverbot ist noch nicht einmal ein Placebo zur Beruhigung der Bevölkerung“, sagt Kyrath.
Konsequente Abschiebungen, härtere Urteile, geschlossene Grenzen – ist der Mann, der seine Tochter verloren hat, ein strammer Rechter? „Wer glaubt, dass der Ruf nach einem funktionierenden Rechtsstaat schon rechts ist – aus dessen Sicht bin ich das dann wohl. Wer glaubt, dass die Forderung, sich an Recht und Gesetz und unsere Werte zu halten, schon rechts ist, für den bin ich wohl ein Rechter. Wenn die Forderung, dass die Bundesregierung Sicherheit und Ordnung wieder herstellen muss, für rechts hält, für den muss ich ein Rechter sein. Aber ich verorte mich eindeutig in der demokratischen Mitte“, sagt Michael Kyrath.
Lebenslange Haft für Mörder von Brokstedt: Genugtuung, aber keine Gerechtigkeit
Das Itzehoer Landgericht hat den Mörder seiner Tochter und ihres Freundes Danny im Mai zu lebenslanger Haft verurteilt. Zudem attestierte es Ibrahim A. eine „besondere Schwere der Schuld“. Mehr geht im deutschen Rechtsstaat nicht. Eine Entlassung des Messerstechers von Brokstedt nach 15 Jahren Haft ist damit nahezu ausgeschlossen. „Das Urteil empfinden wir zumindest als Genugtuung, auch wenn es keine Gerechtigkeit gebracht hat. Gerechtigkeit wird der Täter erfahren, wenn er vor seinen Schöpfer tritt. Egal, wie der heißt“, sagt Kyrath.
- Messerstecher von Brokstedt – ein kluges und klares Urteil nach Bluttat im Zug
- Messerattacke von Brokstedt: Die Opfer leiden lebenslang
- Messerangriff in Brokstedt: Die furchtbaren Verletzungen der Opfer
Der gläubige Christ sucht die Öffentlichkeit und den Kontakt zu Politikern, gibt Interviews, setzt sich in Talkshows. Michael Kyrath treibt eine Mission an. Die hat ihn zum bekanntesten Ankläger nach Messermorden in Deutschland gemacht. Die Hoffnung, dass sich die Sicherheit der Menschen im Land erhöht, treibt ihn an. „Mein Engagement ist sicher ein Stück weit Trauerarbeit. Ich glaube fest daran, dass ich irgendwann, vielleicht in einem Jahr, vielleicht in 20 oder 30 Jahren Ann-Marie und Danny wieder begegnen werde, und ich möchte nicht, dass sie dann fragen: Papa, warum hast du nichts getan? Warum hast du alles geschehen lassen?“
Die Zeit soll ja alle Wunden heilen. Bei Familie Kyrath ist davon nichts zu spüren. „Wir können das für uns nicht sagen. Im Gegenteil. Es wird jeden Tag schmerzhafter. Wir haben unheimlich damit zu kämpfen, morgens aufzustehen, weiterzumachen und eine Perspektive zu finden. Das ist ein täglicher Kampf“, sagt Ann-Maries Vater. Was seine Frau und ihn antreibe, ist das Lebensmotto der Tochter. Das lautete: Aufgeben ist keine Option. „Daran halten wir uns.“