Kiel. Prozess um Messerattacke in der Bahn. Rechtsmediziner des UKE legen Untersuchungen vor. Doch kein Befangenheitsantrag gegen Richter.

Für Zuschauer und Medien war es ein Segen, als die beiden großen Bildschirme an der Wand des Itzehoer Gerichtssaals schwarz wurden. Als die furchtbaren Aussagen des Rechtsmediziners aus dem UKE nicht auch noch von den überdimensionierten Fotos verstärkt wurden, die die Richter, Schöffen und Anwälte auf ihren kleinen Monitoren im Detail sehen mussten, die dem Publikum aus Persönlichkeitsschutz der Opfer aber verborgen blieben. Der Einzige, der meist stur nach unten starrte statt auf seinen Bildschirm, war der Mann, der für all das Leid verantwortlich sein soll: Ibrahim A.

Bluttat in Regionalzug in Brokstedt: Was der Rechtsmediziner sagt

Der staatenlose Palästinenser ist angeklagt, am 25. Januar in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg in Höhe von Brokstedt zwei junge Fahrgäste – Ann-Marie wurde 17 Jahre alt, ihr Freund Danny 19 – getötet und vier weitere Menschen schwer verletzt zu haben. Seine Opfer hat sich der damals 33 Jahre alte Messerangreifer, der erst wenige Tage zuvor aus der Haft in Hamburg entlassen worden war, anscheinend wahllos ausgesucht.

Sven Anders-Lohner, 53 Jahre alt, Oberarzt am UKE in Eppendorf, habilitiert und promoviert, ist ein erfahrener Rechtsmediziner. Und so beschreibt er an diesem Dienstag vor dem Landgericht mit großer Klarheit, Ruhe und Nüchternheit, wie und woran Ann-Marie und Danny an jenem Januartag vor elf Monaten gestorben sind. Die Eltern der beiden lassen sich als Nebenkläger von Beginn des Prozesses an von Anwälten vertreten. Es wäre nicht auszuhalten, müssten sie der Verhandlung beiwohnen.

Ganz zum Schluss seiner Ausführungen über die Wunden, die Ibrahim A. seinem Opfer zugefügt hat, sagt Sven Anders-Lohner etwas halbwegs Tröstliches: dass Ann-Marie vermutlich keinen Schmerz empfunden habe in der kurzen Zeit zwischen dem Messerangriff und ihrem Tod. Anders-Lohner spricht davon, dass der Tod sehr rasch eingetreten sei, vermutlich „innerhalb einer niedrigen einstelligen Zahl von Minuten“.

Opfer nach Messerangriff in Brokstedt: 16 Stiche und Schnitte allein in Hals und Gesicht

27 Stiche und Schnitte mit einem Messer aus dem Supermarkt haben Anders-Lohner und seine Kollegen bei der Leichenschau einen Tag nach der Bluttat im Zug bei der 17-Jährigen gezählt. 16 davon allein in Gesicht und Hals. Mindestens zwei der Stiche seien tödlich gewesen. Einer der beiden tödlichen Stiche verletzte „von oben nach unten geführt“ den rechten Lungenflügel schwer, der zweite tödliche die Arterie im rechten Oberschenkel. Beide Stiche führte der Angeklagte offensichtlich mit großer Wucht und Kraft aus, so weit wie die Klinge eindrang.

Anders-Lohner sprach angesichts der Vielzahl der Messerstiche von einem Verletzungsmuster, das man in der Kriminologie „Übertötung“ oder auch „Overkill“ nennt. Immer und immer wieder stach der Täter in kürzester Zeit zu. So haben der Rechtsmediziner und seine Kollegen bei der Obduktion auch keine Verletzungsmuster entdeckt, die auf eine Abwehrreaktion der Opfer hindeuteten. Vermutlich hat der Täter Ann-Marie in einem Moment der Wehr- und Arglosigkeit überfallen.

Wird Täter Ibrahim A. in die Psychiatrie verlegt?

Anders-Lohner und Kollegen sezierten nicht nur die Leichname von Ann-Marie und ihrem Freund Danny, sie untersuchten auch drei der vier lebensgefährlich verletzten Fahrgäste. Eines der Opfer, das den Angriff im Zug zunächst überlebt hatte, hat sich vor einigen Monaten das Leben genommen.

Ibrahim A. ist des zweifachen Mordes und vierfachen Mordversuchs angeklagt. Er gilt als anstrengender und aggressiver Untersuchungshäftling, klagen Justizangestellte. Der 34-Jährige, der seit 2004 in Deutschland lebt und seither kriminell unterwegs ist, tyrannisierte nicht nur das Personal in der JVA, er hat auch schon versucht, seine Zelle anzuzünden. Als Konsequenz wurde er in der Untersuchungshaft schon zweimal verlegt: von Itzehoe nach Neumünster nach Lübeck.

Angeklagter sieht keine Befangenheit des Gerichts

Sein Anwalt Björn Seelbach versucht denn auch Ibrahim A. in einer psychiatrischen Einrichtung unterbringen zu lassen statt im Untersuchungsgefängnis. Erstinstanzlich ist sein entsprechender Antrag gescheitert, jetzt will Seelbach mit einer Berufung vor dem Oberlandesgericht erneut die Verlegung in die Psychiatrie erreichen.

Mit Spannung war für die Verhandlung am Dienstag erwartet worden, ob Seelbach für seinen Mandanten versuchen sollte, die Strafgerichtskammer als befangen zu erklären. Das hatte ein Kollege von ihm aus Kiel in einem anderen Verfahren mit derselben Kammer getan. Die Begründung des Kieler Anwalts in dem anderen Verfahren: Er habe gehört, dass der Vorsitzende Richter und eine Beisitzerin ein außereheliches Verhältnis hätten.

Bluttat in Regionalzug in Brokstedt: Verhandlungen bis ins Frühjahr

Dieser Kieler Rechtsbeistand – er vertritt in dem anderen Verfahren einen Mann, der laut Anklage seine Frau und drei Kinder töten wollte – hatte mit den Gerüchten seine Forderung nach einer entsprechenden Erklärung des Gerichts begründet. Als die ausblieb, witterte er Befangenheit der Kammer.

Besondere persönliche Verhältnisse zwischen Verfahrensbeteiligten können durchaus eine Befangenheit begründen. Über den Antrag von Seelbachs Kieler Kollegen wird in den nächsten Tagen entschieden. Egal, wie diese Prüfung ausgeht: Für den Brokstedt-Prozess dürfte das irrelevant bleiben: Seelbach erklärte am Dienstag für seinen Mandanten, dass Ibrahim A. der „Unabhängigkeit der Richter“ vertraue, keine „Probleme mit sexuellen Beziehungen“ habe, sofern das überhaupt so sei, und deshalb auf einen Befangenheitsantrag verzichte.

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Das ist für den weiteren Verlauf des Brokstedt-Prozesses nicht unerheblich: Im extremsten Fall hätte das Verfahren neu aufgerollt werden müssen. Und immerhin ist hier seit dem Sommer schon an mehr als 20 Tagen verhandelt und sind 60 Zeugen vernommen worden. Der Prozess, der ursprünglich bis Weihnachten terminiert war, zieht sich auch ohne Befangenheit noch bis in den April hin.