Hamburg/Glückstadt. Was die Hansestadt damit sicherstellen will – schleswig-holsteinische Flüchtlingsbeauftragte kritisiert Praxis im Nachbarland scharf.
Die Menschen, die hier hinter hohen Mauern und Stacheldraht untergebracht sind, haben keine Perspektive. Ihre Zeit in Deutschland läuft in Glückstadt ab. Vielleicht sind es zwei Wochen, vielleicht auch drei, aber dann werden sie außer Landes gebracht. Dann geht es zurück nach Georgien, Algerien, Irak oder nach – Polen und Rumänien.
Anders als Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern, die gemeinsam mit Hamburg die Abschiebehaftanstalt betreiben, sperrt der Senat in Glückstadt auch EU-Bürger weg. Seit Jahresbeginn waren es allein 18 Polen. Hamburg will so deren Abschiebung sicherstellen. Dagegen regt sich im Nachbarland Schleswig-Holstein Widerstand.
Hamburg: Warum die Hansestadt auch EU-Bürger in Abschiebehaft nimmt
„Ich bin Vorsitzende im Landesbeirat der Abschiebehafteinrichtung Glückstadt. Hamburg nutzt diese Abschiebehaft mittlerweile, um wohnungslose Polen abzuschieben. Das kann nicht Sinn und Zweck sein.“ Das sagte die neue schleswig-holsteinische Flüchtlingsbeauftragte vergangene Woche in einem Interview mit den „Kieler Nachrichten“.
Im Gespräch mit dem Hamburger Abendblatt legt Doris Kratz-Hinrichsen jetzt nach: Eine Unterbringung in Abschiebehaft sei ein „sehr einschneidender Moment. Das Instrument sollten wir nutzen für Abschiebungen in Länder außerhalb der EU, aber nicht für Abschiebungen innerhalb“, so die Flüchtlingsbeauftragte. „Ich werde das Gespräch mit den Hamburger Behörden suchen, um mildere Alternativen zur Abschiebehaft zu finden“, kündigte Kratz-Hinrichsen an.
Hamburg nutzt die Haftplätze in Glückstadt konsequenter als Nachbarländer
Rechtlich sei Abschiebehaft auch für EU-Bürger zulässig, politisch sei die Einrichtung in Glückstadt dafür aber nicht gedacht gewesen, heißt es aus der schleswig-holsteinischen SPD über die Hamburger Praxis. Auch der SSW-Fraktionschef im Kieler Landtag, Lars Harms, kritisiert, EU-Bürger in Abschiebehaft zu nehmen. „Wir stellen unser Geld zur Verfügung, damit die Hamburger in Glückstadt ihre Leute unterbringen“, sagte er im Innen- und Rechtsausschuss des Kieler Parlaments angesichts der gedrittelten Fixkosten für das Abschiebegefängnis in einer umgebauten und jetzt streng gesicherten alten Kaserne.
Hamburg nutzt die Haftplätze dort viel konsequenter und schiebt auch konsequenter ab, als Kiel es tut. So hatten Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern in der vergangenen Woche jeweils vier Männer vor deren Abschiebung in Glückstadt untergebracht, Hamburg hingegen hatte 17 Plätze beansprucht. Bis zum 31. Mai hat Hamburg insgesamt 727 Menschen abgeschoben, darunter 87 Straftäter. Aus Glückstadt erfolgten bis Ende Mai dieses Jahres 70 Rückführungen in die Heimatländer – im gesamten Jahr 2023 waren es 94.
Stadt spricht EU-Bürgern vermehrt Freizügigkeit-Voraussetzungen ab
Nach der Freizügigkeitsrichtlinie der Europäischen Union können EU-Bürger nach Deutschland einreisen und hier ohne Aufenthaltserlaubnis leben. Das gilt bis zu drei Monate. Wer länger bleiben will, muss beispielsweise einen Job haben, eine Ausbildung absolvieren oder selbstständig sein. „Wenn die Voraussetzungen nicht oder nicht mehr erfüllt sind, entfällt das Recht auf Freizügigkeit“, informiert die Hamburger Innenbehörde. Das gilt zum Beispiel für Obdachlose. In den meisten Fällen handelt es sich bei Abschiebungen von EU-Bürgern um Menschen, die zuvor straffällig geworden sind – viele von ihnen nach Abendblatt-Informationen in der Umgebung des Hamburger Hauptbahnhofs.
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„Wir wissen, dass die Stadt EU-Bürgern vermehrt die Voraussetzungen für eine Freizügigkeit abspricht“, sagt Jörn Sturm, Geschäftsführer des Hamburger Straßenmagazins „Hinz&Kunzt“. Wer danach nicht freiwillig ausreise, werde außer Landes gebracht – und verliere damit das Recht, zurückzukehren. Zwei Drittel der Obdachlosen in Hamburg kämen nicht aus der Stadt, hat Bürgermeister Peter Tschentscher vor wenigen Tagen vor dem Überseeclub gesagt. Er sprach von Pull-Effekten: „Obdachlose ziehen nach Hamburg, weil wir ein gutes Angebot haben.“ Gerade aus Osteuropa kämen viele Wohnungslose. „Das ist nicht das, was die Freizügigkeit in Europa vorsieht“, sagte der Sozialdemokrat. Man müsse die Menschen bitten, zurückzugehen.
Hamburg hat dieses Jahr 26 EU-Bürger abgeschoben
Sozialberater berichteten, dass „obdachlose Menschen systematisch von der Polizei aufgesucht würden“, um deren Freizügigkeitsvoraussetzungen zu überprüfen, sagt Carola Ensslen von der Linken in der Hamburgischen Bürgerschaft. Sie fragt regelmäßig beim Senat ab, wie vielen EU-Bürgern das Aufenthaltsrecht entzogen wurde. Demnach war im ersten Quartal einem Litauer, zwei Bulgaren, vier Polen und fünf Rumänen die Freizügigkeit aberkannt worden. Alle zwölf waren obdachlos. Auch hat Hamburg von Januar bis März dieses Jahres 26 EU-Bürger in ihre Heimatländer abgeschoben, 13 von ihnen allein nach Polen – viele über Glückstadt.
Die Hamburger Linke nennt die Abschiebehaftanstalt „unhaltbar“, so Carola Ensslen. Über Monate keine Sozialberatung, Brände in Zellen, zu wenig Personal, abgelehnter Besuch, so lauten die Vorwürfe unterschiedlichster Flüchtlingsorganisationen. EU-Bürger hier unterzubringen, sei zwar nicht verboten, aber zumindest höchst fragwürdig, kritisiert Ensslen.