Itzehoe. 96 Jahre alte Angeklagte war vor dem Prozessauftakt aus ihrem Quickborner Altenheim geflohen und wurde später in Hamburg gefasst.
Seit Donnerstagabend ist Irmgard F. die älteste Inhaftierte in den Untersuchungshaftanstalten in Schleswig-Holstein. Die 96 Jahre alte ehemalige Sekretärin aus dem Konzentrationslager Stutthof hatte zuvor versucht, sich ihrem Prozess vor dem Landgericht Itzehoe durch Flucht zu entziehen. Nach der Festnahme der aus Quickborn stammenden Seniorin hatte das Landgericht Härte demonstriert und die 96-Jährige in Untersuchungshaft gesteckt. Der Haftgrund: Fluchtgefahr.
„Die Richter haben keine mildere Möglichkeit gesehen“, sagt Frederike Milhoffer, die Sprecherin des Landgerichts. Was sie nicht sagt: Irmgard F. hat sich ungeachtet ihres hohen Alters den Gang hinter Gitter selbst eingebrockt. Nachdem die wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen angeklagte Frau, die zwischen 1943 und 1945 in dem KZ tätig war, drei Wochen vor Prozessbeginn schriftlich angekündigt hatte, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen, ließ sie am ersten Verhandlungstag ihren Worten Taten folgen.
KZ Stutthof: Angeklagte nach Flucht vor Prozess gefasst
Abgesprochen war, dass ein Mitarbeiter des Amtsärztlichen Dienstes die betagte Angeklagte am Vormittag in ihrem Pflegeheim in Quickborn-Heide abholen und zum Prozess nach Itzehoe begleiten soll, damit auch vor Ort eine medizinische Betreuung sichergestellt ist. Doch als der Mediziner vor Ort eintraf, hatte Irmgard F. das Altenheim bereits verlassen. Zwischen 6 und 7.20 Uhr hatte sie sich ein Taxi bestellt und zum U-Bahnhof Norderstedt-Mitte bringen lassen, wo sich zunächst ihre Spur verlor.
Am Nachmittag entdeckte eine Polizeistreife die auf einen Rollator angewiesene Flüchtige einige Kilometer entfernt an der Langenhorner Chaussee in Hamburg. Damit wurde offenbar, dass es sich nicht um eine geplante Aktion, sondern wohl eher um eine Kurzschlussreaktion gehandelt hat. Die 96-Jährige wurde auf ein Hamburger Polizeirevier und dann zum Itzehoer Gericht gebracht.
Stutthof-Prozess findet vor Jugendkammer statt
Die dortigen Richter hatten bereits am Vormittag einen Haftbefehl gegen Irmgard F. erlassen, nachdem sie nicht zum Prozessauftakt der Dritten Großen Jugendkammer – sie ist aufgrund des Alters der Angeklagten zur Tatzeit zuständig – erschienen war. Dieser Haftbefehl wurde der 96-Jährigen und ihrem Anwalt dann am Donnerstagabend verkündet. Das Gericht hätte die Möglichkeit gehabt, diesen Haftbefehl gegen Erteilung von Auflagen außer Vollzug zu setzen. Eine Auflage hätte etwa sein können, dass die Seniorin zu jedem angesetzten Gerichtstermin von der Polizei vorgeführt wird.
Diese Möglichkeit nutzten die Richter jedoch nicht. Offenbar trauen sie Irmgard F. durchaus zu, vor dem nächsten Gerichtstermin am 19. Oktober erneut „stiften“ zu gehen. „Die Kammer hat sich von der Haftfähigkeit der Frau überzeugt“, sagt Gerichtssprecherin Milhoffer. So sei ein Vertreter des Amtsärztlichen Dienstes bei dem Termin anwesend gewesen.
Irmgard F. könnte bis Juni 2022 in U-Haft bleiben
Vermutlich dürfte Irmgard F., die aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankung auf Pflegedienstleistungen angewiesen ist, auf die Krankenstation einer Haftanstalt gebracht worden sein. Wohin, ist nicht bekannt. In Schleswig-holstein sind weibliche Strafgefangene ausschließlich in Lübeck untergebracht.
Ihr Aufenthalt hinter Gittern könnte im Extremfall die gesamte Prozessdauer andauern, die bis Juni 2022 vorgesehen ist. „Sie bleibt bis auf Weiteres in Haft“, betont die Sprecherin des Gerichts. Allerdings könne die Verteidigung jederzeit Anträge zur Haftprüfung stellen.
Stutthof-Prozess: 25 Verhandlungstage sind angesetzt
Das Abendblatt erreichte am Freitag mit Wolf Molkentin auch den Pflichtverteidiger der 96-Jährigen, der bei der Verkündung des Haftbefehls anwesend war. Wie zuvor zur Flucht der Angeklagten will der Anwalt auch zur Inhaftierung seiner Mandantin keinen Kommentar abgeben. Auch gibt der Verteidiger nicht preis, ob er ein weiteres Mittel nutzt, das ihm zusteht. So wäre es möglich, gegen die Entscheidung der Itzehoer Richter Beschwerde beim Oberlandesgericht in Schleswig einzulegen, das dann eine erneute Prüfung vornehmen würde.
Der KZ-Prozess wird am 19. Oktober fortgesetzt, dann ist – die Anwesenheit der Angeklagten vorausgesetzt – die Verlesung der Anklage und die mögliche Einlassung von Irmgard F. geplant. Es folgen bis zum 7. Juni 2022 weitere 25 Prozesstage, die aufgrund der angeschlagenen Gesundheit der 96-Jährigen maximal zwei Stunden andauern können.
NS-Prozess: Auschwitz-Komitee empört über Flucht
Verfolgt wird das Verfahren gegen die 96-jährige auch vom Internationalen Auschwitz-Komitee, bei dem die Flucht der Angeklagten am Donnerstag für Fassungslosigkeit und Entsetzen gesorgt hat. „Darin zeigt sich eine zynische Verachtung der Überlebenden, aber auch des Rechtsstaats“, sagte Vize-Exekutivpräsident Christoph Heubner am Donnerstag. Diese Haltung des Schweigens, Verachtens und Zerstörens sei genau die Haltung, die der SS innegewohnt habe. Das Komitee vertritt KZ-Überlebende und deren Angehörige.
Aber auch die deutsche Justiz müsse sich die Frage gefallen lassen, wie es dazu kommen konnte. „Man hätte die Möglichkeit der Flucht mitdenken und das Pflegeheim abschirmen und die Angeklagte zum Prozess bringen müssen“, sagte Heubner. Diese Situation sei Deutschlands nicht würdig. Bei den Überlebenden löse die Flucht ungläubiges Kopfschütteln aus. Sie erhofften sich vom Prozess einen Akt später Gerechtigkeit.
Anwalt ist erstaunt von Angeklagter
Mehrere Nebenklage-Anwälte, die 30 Überlebende des Konzentrationslagers vertreten, sowie Christoph Heubner, der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, kritisierten den im Vorfeld des Prozesses laschen Umgang der Justiz mit der Angeklagten Irmgard F. „Frau F. kann dank ihres Verhaltens eine neue Ikone der rechten Szene werden“, sagt Heubner, dessen Organisation KZ-Überlebende und deren Angehörige vertritt. Die Angeklagte zeige damit eine „unglaubliche Verachtung des Rechtsstaats und der Überlebenden“. Für ihn stelle sich die Frage, ob das Gericht die Dimension dieses Prozesses unterschätzt habe.
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Anwalt Onur Özata vertritt drei KZ-Überlebende, die in Litauen und Israel zu Hause sind und aufgrund ihres hohen Alters nicht am Prozess teilnehmen können. „Es scheint so, dass die Angeklagte das Gesetz nicht ernst nimmt, sie führt die Justiz an der Nase herum“, sagt er. „Ihr Verhalten ist aus Sicht der Überlebenden unerträglich.“ Für seine Mandanten, der älteste ist 1922 geboren, gehe es nicht um Rache. „Ihnen ist wichtig, dass das Verfahren vor einem deutschen Gericht überhaupt stattfindet und dass rechtlich geklärt wird, ob sich KZ-Mitarbeiter auf einer unteren Hierarchieebene strafbar gemacht haben.“
Jurist Stefan Lode ist stellvertretend für vier Stutthof-Überlebende anwesend, die in den USA und in Israel leben. „Ihnen geht es darum, dass ihre Geschichte erzählt wird, dass die Ereignisse von damals in den Fokus der Öffentlichkeit gestellt werden.“ Er habe befürchtet, dass Irmgard F. nicht zum Gerichtstermin erscheinen werde. Anwalt Christoph Rückel, der fünf Überlebende aus den USA, Australien, Frankreich und Österreich vertritt, geht davon aus, dass Irmgard F. bei der Flucht Hilfe hatte, etwa aus ihrer Familie. „So ein Verhalten ist schon erstaunlich für eine 96-Jährige.“
Stutthof-Prozess: Großes Aufkommen im Saal
31 Medienunternehmen wollen über den Prozess berichten, inklusive freier Journalisten sind 135 Medienvertreter akkreditiert. Weil im Landgericht kein so großer Raum zur Verfügung steht, findet das Verfahren im Gebäude eines Itzehoer Logistikunternehmens statt.
Dort warteten am Donnerstagmorgen mehr als 50 Journalisten und Zuschauer, zwölf Vertreter der 30 Nebenkläger (Überlebende des KZs), der Verteidiger und weitere Prozessbeteiligte. Geplant war zum Auftakt des Prozesses die Verlesung der Anklage.
KZ Stutthof: Genickschussanlage für Massentötungen
Im deutschen KZ Stutthof und seinen Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen zu Kriegsende starben nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg rund 65.000 Menschen, darunter viele Juden.
Das Lager bei Danzig erlangte traurige Bekanntheit für die von der SS bewusst in Kauf genommene katastrophale Versorgung der Insassen, die vor allem an Entkräftung und Krankheiten starben. Es gab dort aber unter anderem auch eine Gaskammer und eine Genickschussanlage für Massentötungen.
NS-Prozesse: Rechtslage hat sich inzwischen geändert
Im Sommer 2016 hatte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg der Staatsanwaltschaft Itzehoe Unterlagen zum Fall Irmgard F. übergeben, die in der Vergangenheit nur als Zeugin befragt worden war. Zuvor waren nur die Täter belangt worden, die hohe Positionen in den Konzentrationslagern innehatten oder sich direkt an Tötungen beteiligt hatten, nicht deren Helfer.
Inzwischen ist die Rechtslage eine andere. „Es war ein Ermittlungsverfahren von außergewöhnlicher Natur“, sagt Oberstaatsanwalt Peter Müller-Rakow. Seine Mitarbeiter hätten sehr intensiv Unterlagen aus dem KZ Stutthof ausgewertet und Überlebende in Deutschland, den USA und Israel vernommen, seien zum Teil extra dorthin geflogen. Zudem habe ein Historiker in einem Gutachten die Tätigkeit der Stenotypistin und Schreibkraft durchleuchtet. Müller-Rakow: „Das alles war sehr zeitintensiv.“ Im Januar 2021 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage.
Auschwitz-Komitee: Anklage zu spät erhoben?
Viel zu spät, sagt Christoph Heubner vom Auschwitz-Komitee. Er kritisiert die lange Ermittlungsdauer – und die Tatsache, dass die meisten in den Konzentrationslagern arbeitenden SS-Leute „nie einen Gerichtssaal von innen gesehen haben“. Seit dem Kriegsende seien gerade einmal 80 SS-Leute vor Gericht gestellt worden. Heubner spricht „von einem dunklen Kapitel der Rechtsgeschichte“ und sagt weiter: „Daran wird auch dieser späte Prozess nichts ändern.
Wolf Molkentin, der Pflichtverteidiger von Irmgard F. stellt das systematische Morden in Stutthof nicht in Abrede. Der Prozess müsse aber zeigen, ob die Angeklagte Kenntnis von der Mordmaschinerie gehabt habe – nur dann könne sie auch bestraft werden. So seien etwa diesbezügliche Schreiben, die mit ihrem Kürzel versehen waren, nicht gefunden worden. „Nicht alles wurde damals verschriftet, vieles ist mündlich ergangen.“
Prozess findet vor Jugendkammer statt
Das Itzehoer Verfahren wird von der 3. Großen Jugendkammer verhandelt, weil die Angeklagte zum Zeitpunkt der Tat 18 bis 19 Jahre alt und somit Heranwachsende im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes war.