Irmgard F. steht vor Gericht. Warum der Prozess gegen eine 96-jährige KZ-Sekretärin geführt werden muss.

Wie lang fühlen sich 76 Jahre an? Wie eine Ewigkeit, wie ein ganzes Leben? Erinnert man sich an Familienfeste, Hausbau und Kinder nur noch wie an eine verblassende Fotosammlung? Wie fühlt man sich, wenn man 96 Jahre alt ist und für etwas angeklagt wird, dass 76 Jahre und länger zurückliegt? 76 Jahre sind viel Zeit, um zu vergessen, und lange genug, um eine ganz andere zu werden. Irmgard F. hätte all das am Donnerstag vor dem Landgericht Itzehoe erklären können.

Vor 76 Jahren hat sie als Sekretärin für den Kommandanten des Konzentrationslagers Stutthof gearbeitet. Über ihren Tisch gingen alle wichtigen Unterlagen, die für den Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe gedacht waren. Und in dem Lager sind grausame, grauenhafte Dinge geschehen.

Sekretärin im KZ Stutthof: Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen

Das Konzentrationslager Stutthof war ein Ort, der – so berichten es Zeugen, die überlebt haben – der Hölle gleichgekommen sein muss. Gewalt, Hunger, Krankheit, schließlich Mord. Und die angeklagte 96-Jährige, die sich gestern vor dem Gericht hätte verantworten sollen, aber stattdessen zu flüchten versuchte, soll alles mitbekommen haben. Es geht um Beihilfe zum Mord in mehr als 11.000 Fällen, die Irmgard F. im Alter von 18 und 19 Jahren geleistet haben soll.

Eine Frage, die bei diesen letzten Nazi-Prozessen immer wieder auftaucht, ist, ob man diese betagten Menschen noch vor Gericht stellen muss. Es gibt dazu unterschiedliche Begründungen, aber nur eine Antwort: Ja, man muss.

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KZ-Sekretärin: Rädchen in der Todesmaschinerie des Holocaust

Die juristische Begründung ist, dass Mord nicht verjährt, und auch nicht Beihilfe zum Mord. Seit dem Prozess gegen den ukrainischen KZ-Wachmann John Demjanjuk 2011 ist es möglich, dass sich eben auch Helfer und Mitläufer in Konzentrationslagern für NS-Verbrechen verantworten müssen. Sie sind Rädchen in der Todesmaschinerie des Holocaust gewesen, und als solche tragen sie Verantwortung. Das Demjanjuk-Urteil ist historisch. Trotzdem wirft es Fragen auf. Warum hat erst im Jahr 2011, 66 Jahre nach dem Holocaust, zum ersten Mal ein Gericht so entschieden und den Weg für weitere NS-Prozesse geebnet?

Es ist ein Versäumnis der deutschen Justiz, das sich an den späten Prozessen offenbart. Auch Irmgard F. und ihre Rolle waren längst bekannt. Bereits in den 50er-Jahren sagte sie vor Gericht aus, als ihrem Chef von einst, dem Lagerkommandanten Hoppe, der Prozess gemacht wurde. Er wurde wegen seiner Taten im KZ Stutthof zu neun Jahren Haft verurteilt, saß sieben Jahre im Gefängnis und führte von 1960 bis zu seinem Tod im Jahre 1974 ein unauffälliges Leben – wie so viele andere, die mitgewirkt haben, ohne die die Todesindustrie der Nazis nicht funktioniert hätte. Viele konnten fliehen, lebten nach dem Krieg weiter, wurden nicht verfolgt, trugen die Schuld in sich und schwiegen.

Es ist wichtig, die Verbrechen aufzuarbeiten

Die moralische Dringlichkeit für diesen späten Prozess ergibt sich genau aus diesem langen Schweigen. Die deutsche Justiz, die Ermittlungs- und Strafbehörden, ließen zu vieles ungeahndet, waren zum Teil an wichtigen Positionen mit Personen besetzt, die einst im NS-Regime schon ähnliche Posten innehatten. Aber auch ein großer Teil derer, die all das miterlebt haben, schwieg.

Daher ist es wichtig, heute alles aufzuarbeiten. Hiervon hängt nicht nur die Glaubhaftigkeit der deutschen Justiz, auch der deutschen Politik und eines jeden einzelnen Bürgers ab. Der Welt zu versichern, dass Deutschland zu seiner Verantwortung steht und es ernst meint mit den Worten „Nie wieder!“, heißt auch, jene zur Verantwortung zu ziehen, die diese Verbrechen verübt und unterstützt haben.

Die letzten Prozesse gegen diese hochbetagten Menschen zeigen allen jüngeren Generationen: Es gibt eine Schuld, die nicht verjährt.