Glinde. Anja Ley unterrichtet auf der kleinen Insel zwölf Schüler der Klassen 1 bis 9. Warum sie eine Veränderung im Leben brauchte.
Größer könnte der Kontrast wohl kaum sein: Noch vor wenigen Tagen stand Anja Ley vor der Tafel eines Klassenraums der Schule Fuchsbergredder in Hamburg Billstedt. 400 Kinder besuchen die Grundschule, auf dem Gelände im Osten der Hansestadt ist immer etwas los. Ab dem Spätsommer erwartet die 58-Jährige der komplette Gegensatz.
„Ich werde Lehrerin an der Schule auf der Hallig Hooge“, sagt Ley. Dort ist Entschleunigung angesagt. Gerade einmal zwölf Schüler besuchen die Zwergenschule auf der zweitgrößten Hallig im schleswig-holsteinischen Wattenmeer. Nur rund hundert Menschen leben auf der kleinen Marschinsel. Viele davon wird Anja Ley sicher bald mit Namen kennen.
Der Wunsch, Lehrerin auf der Hallig Hooge zu werden, kommt nicht von ungefähr
Ihr Wunsch, auf die Insel in der Nordsee zu ziehen, kommt nicht von ungefähr. „Ich bin gebürtige Nordfriesin. Meine Großeltern haben auf der Hallig Oland gelebt und mein Vater ist dort aufgewachsen“, sagt die Lehrerin. Sie selbst hat ihre ersten zwei Lebensjahre auf der Hallig Langeneß verbracht und unzählige Sommer bei ihren Großeltern erlebt. „Für Kinder ist es dort paradiesisch. Wir wurden morgens rausgeschickt und kamen erst abends wieder zum Essen rein. Tagsüber haben wir draußen im Wattenmeer Abenteuer erlebt. Das war so wahnsinnig schön.“
Auch als erwachsene Frau ist Ley immer wieder auf die Inseln zurückgekommen, wenn sie die Seele baumeln lassen wollte. „Dort ist ja nichts, man kann sehr schnell abschalten und zur Ruhe kommen“, sagt sie. Darauf freut sich die 58-Jährige ganz besonders – waren die vergangenen Jahre doch viel von beruflichen Veränderungen und den unterschiedlichsten Stationen geprägt.
Nach der Schule machte Anja Ley zunächst eine Ausbildung als Erzieherin
„Nach der Schule habe ich eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht“, so Ley. „Mit 18 wollte ich raus aus der Provinz.“ Sie ging nach Hamburg, lebte und arbeitete lange dort. Doch der Wunsch, sich beruflich weiterzuentwickeln, klopfte immer wieder gedanklich an die Tür. Ley: „Ich habe mich irgendwann gefragt, ob das schon alles ist.“ Mit Ende 20 holte sie an der Abendschule ihr Abitur nach, studierte zunächst Philosophie auf Magister.
„Im Laufe der Zeit habe ich aber gemerkt, dass die Arbeit mit Menschen das ist, was mich am meisten in meinem Herzen erfüllt“, so Ley. Sie ging nach Flensburg, studierte Deutsch, Kunst und Philosophie auf Lehramt, darf mit ihrem Abschluss Primar- und Sekundarstufe unterrichten.
Mit 54 absolvierte die gebürtige Nordfriesin ihr Referendariat
Bis sie letztendlich Lehrerin wurde, verging noch einmal ein bisschen Zeit. „Ich blieb zunächst an der Uni und unterrichtete als wissenschaftliche Mitarbeiterin vor allem im niederdeutschen Bereich, da ich fließend plattdeutsch spreche“, so Ley. Von dort aus ging es an eine Schule in freie Trägerschaft. Im Zuge der Flüchtlingswelle 2015 unterrichtete sie Geflüchtete. „Aber irgendwann war der Wunsch doch sehr stark an eine staatliche Schule zu gehen“, so Ley.
Vor vier Jahren, mit 54, absolvierte sie ein Referendariat – an der Billstedter Grundschule, an der sie bis zuletzt arbeitete. Noch lebt sie mit ihrem Mann in Glinde. Warum der Weg zur Lehrerin so lange gedauert hat? „Ich hatte Angst vor dem deutschen Schulsystem“, sagt sie. Vor allem die Sorge, den Kindern auf großen Schulen nicht gerecht werden zu können, trieb sie um.
Anja Ley bedauert es, an der große Schule nicht allen gerecht werden zu können
„Das hat sich zum Teil auch bewahrheitet“ sagt die 58-Jährige. „Lehrerinnen und Lehrer müssen immer mehr Aufgaben bewältigen.“ Integration und Inklusion zählen dazu. „Wir erleben nicht nur eine Vielfalt an Kulturen, sondern auch an Lernvoraussetzungen. Gleichzeitig mangelt es an Sonderpädagogen. Mit diesen Ressourcen ist es fast unmöglich, allen Kindern gerecht zu werden, auch wenn die Lehrer ihr Bestes geben. Das zehrt an den Kräften.“
Dass genau das an der kleinen Schule auf der Hallig Hooge anders werden wird, darauf hofft Anja Ley. An die Stelle ist sie gekommen, weil die derzeitige Lehrerin zurück aufs Festland geht. „Ihre Tochter möchte Abitur machen, das geht auf der Hallig Hooge nicht“, so Ley. Um sich auf die Tätigkeit vorzubereiten, hat sie die Halligschule bereits besucht. „Ich war beeindruckt von der entspannten Lernatmosphäre.“ Das Schulgebäude besteht aus einem großen Klassenraum und drei kleineren Räumen. Ley: „Der große Raum ist durch Regale zweigeteilt. Auf der einen Seite sitzen die Grundschüler und auf der anderen die Älteren.“
Auf der Hallig Hooge werden die zwölf Schüler individuell nach Klassenstufe beschult
Beschult wird dann jeder Schüler individuell je nach Klassenstufe. „Das macht die Vorbereitungsarbeit natürlich intensiv“, so Ley. „Im Unterricht selbst arbeiten die Schüler viel eigenständig.“ Bis Anfang nächsten Jahres hat sie noch einen Kollegen. „Das ist ein Student mit Lehrauftrag, der mich in naturwissenschaftlichen Fächern unterstützt. Solange habe ich Zeit, mir da noch etwas Wissen wieder draufzupacken“, sagt sie und lacht.
Die meisten Schüler sind nicht auf der Insel geboren. „Meistens sind es Familien, die vom Festland kommen und einen Neustart wollten – so wie ich ja auch.“ Angst, dass sie sich auf der Insel einsam fühlen könnte, hat sie keine. Immerhin kommen ihr Mann Knut und ihr Labradorwelpe mit. „Mein Mann ist als Unternehmensberater in der Gesundheitsbranche tätig und kann ortsunabhängig arbeiten“, so Ley. „Der kommt aus Flensburg und ist genau wie ich ganz heiß auf die Insel.“
Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie eine psychologische Beratung gegründet
Auch um die Freizeitgestaltung macht Ley sich keine Gedanken. „Ich singe, male, zeichne und lese gerne“, sagt sie. Alles Hobbys, die sich auch abseits des Festlandes ausüben lassen. „Außerdem gehe ich gerne spazieren und mache draußen in der Natur auch gerne meine Gebetsspaziergänge.“ Die 58-Jährige ist gläubige Christin, ihr Glauben schenkt ihr Kraft. Auch gemeinsam mit ihrem Mann will Anja Ley neben dem Berufsalltag aktiv werden. „Wir haben uns eine Fotoausrüstung zugelegt und wollen als gemeinsames Hobby zu fotografieren anfangen.“
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Obwohl die Insel nur 5,6 Quadratkilometer groß ist, gibt es durchaus einiges an Infrastruktur: Supermarkt, Paketstation, Krankenstation, außerdem dank des Tourismus viele Restaurants und Cafés. Rund 90.000 Tagesbesucher und 40.000 Übernachtungen im Jahr zählt die Insel. Außerdem hat das Paar eine psychologische Beratung namens Lebensschule Hamburg gegründet, wird seine Klienten über Videocalls beraten. Langweilig dürfte es also nicht werden.
Anja Ley ist sich sicher, dass sie das neue Leben lieben wird
Aktuell wohnt das Paar noch in einer Doppelhaushälfte zur Miete in Glinde. Für die kommenden Wochen steht der Umzug an. Eine Lehrerwohnung direkt an der Schule ist mit der Stelle verbunden. Angst vor dem Kulturschock von der Großstadt zur Zwergeninsel hat Anja Ley überhaupt nicht. „Es gibt ja das Internet, ganz abgeschnitten von der Außenwelt ist man ja doch nicht. Demnächst bekommen wir sogar Glasfaser.“
Abgesehen davon ist die 58-Jährige sich sicher, dass sie das Leben auf der Insel lieben wird. „Ich kann es kaum erwarten, mehr Ruhe und Natur in unser Leben zu bringen“, sagt sie. Worauf sie sich am meisten freut? Ley: „Auf das Weniger, das mehr ist.“