Reinbek/Tespe. Mehr als zehn Jahre wartet Joachim Meyer vergeblich auf ein Organ. Dann handelt seine Susanne. Doch es wird eine Zitterpartie.

Es ist der 8. Januar 2006, als das Leben von Joachim Meyer vom einen auf den anderen Tag auf den Kopf gestellt wird. Der heute 57-Jährige arbeitet damals beim Sicherheitsdienst des HSV, als er urplötzlich ins Krankenhaus muss. Die niederschmetternde Diagnose lautet: Herzinfarkt. Doch damit nicht genug: Dass dieser einschneidende Tag der Beginn eines jahrelangen Leidensweges sein wird, er eine Organspende benötigen wird, weiß er damals noch nicht. „Im selben Jahr wurde auch noch Lymphdrüsenkrebs diagnostiziert“, sagt er.

Damals hört er außerdem zum ersten Mal von seinen schlechten Nierenwerten. „Als ich im Krankenhaus auf der Intensivstation lag, kam der Arzt rein und wollte mit mir über meine Nierenwerte sprechen.“ Meyer, der für gewöhnlich kein Blatt vor den Mund nimmt, sagt: „Nein, da sind Sie hier falsch. Ich bin der mit dem Herzen.“ Doch der Arzt irrt nicht. Joachim Meyers Kreatininwert ist viel zu hoch, möglicherweise seit Jahren schon.

Joachim Meyer bekam von seiner Frau Susanne eine Niere geschenkt

Die Bestimmung des Stoffwechselprodukts im Blut ist ein wichtiger Laborwert zur Beurteilung der Nierenfunktion. Für Männer gilt ein Wert zwischen 0,5 und 1,1 als normal. Höhere Werte deuten auf eine gestörte Funktion der Nieren hin. Genau das ist bei Joachim Meyer der Fall. Oft bleibt eine Nierenschwäche lange unentdeckt, denn zu Beginn treten oft kaum oder unspezifische Symptome auf. Meyer: „Die Werte erklärten, warum ich mich so schlapp fühlte. Ich habe es bis dahin aber auf meinen stressigen Job geschoben.“

Zuerst, sagt er, habe er sich nicht so richtig mit der Diagnose befasst, hat er doch auch noch mit dem Lymphdrüsenkrebs zu kämpfen, der kurze Zeit später gefunden wird. Jene Zeit der Fußballweltmeisterschaft 2006 im eigenen Land, die viele Deutsche als Sommermärchen erinnern, ist für Meyer mit die schwierigste Zeit des Lebens. Ein Knoten in Tennisballgröße wird ihm aus der Leiste entfernt. Im Februar 2007 besiegt er den Krebs.

Acht bis zehn Jahre warten Patienten im Schnitt auf ein Spenderorgan

Doch seine Nierenschwäche schreitet fort. Der Kreatininwert liegt mittlerweile bei 3. Betreut wird Meyer vom Reinbeker Nephrologen Dr. Markus Meier, der ihm den Ernst seiner Lage verdeutlicht. Schnell wird klar: Joachim Meyer braucht eine neue Niere, sonst muss er zur Dialyse. Das Verfahren zur Reinigung des Bluts übernimmt die Funktion der Nieren, wenn diese den Körper nicht mehr von schädlichen Substanzen und überflüssigem Wasser befreien können.

„Ungefähr ab einem Wert von 5 geht es nicht mehr ohne Dialyse“, sagt Meyer. „Doch die wollte ich so lange wie möglich hinauszögern.“ Das Warten auf eine Spenderniere jedoch ist vergeblich. Nach wie vor gibt es in Deutschland viel zu wenige Organspender, um den Bedarf zu decken. Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung stehen rund 8000 Menschen auf der Warteliste für ein Spenderorgan, die meisten für eine Niere. Acht bis zehn Jahre warten Patienten in der Regel. Eine transplantierte Niere hält im Schnitt zwölf bis 15 Jahre. 2022 gab es bundesweit 869 Organspenderinnen und Organspender. Das sind rund zehn Organspender je eine Million Einwohner.

Mehr als sechs Jahre musste Joachim Meyer zur Dialyse

Joachim Meyer geht die Wartezeit im wahrsten Sinne des Wortes an die Nieren. Die Werte werden immer höher. Doch lange verweigert er die Dialyse. „Ich wollte durchhalten bis zur Konfirmation meines Sohnes im Jahr 2012“, sagt er. Das hat er auch geschafft – gerade so. „Freunde haben mir gesagt, dass ich schlecht aussehe. Ich war schlapp, hatte keinen Appetit. Das war eine blöde Zeit“, sagt er. Im Juni 2012 ist sein Kreatininwert 10, die Dialyse nicht mehr weiter hinauszuzögern.

Joachim und Susanne Meyer fünf Jahre nach der Nierenspende: Beiden geht es gut. 
Joachim und Susanne Meyer fünf Jahre nach der Nierenspende: Beiden geht es gut.  © Juliane Minow | Juliane Minow

Obgleich die Dialyse ihm das Leben rettet – mental ist sie für Meyer eine große Belastung. „Ich musste drei Tage die Woche für fünf Stunden zur Dialyse“, sagt er. Mehr als sechs Jahre soll das so weitergehen, 341 Wochen, 2385 Tage. Mit seinem Job ist das nicht zu vereinen. „Ich wurde arbeitslos.“ Ein Spenderorgan ist weiterhin nicht in Sicht.

2010 lernte Joachim Meyer seine spätere Frau Susanne kennen

Doch 2010 geschieht etwas, das für Joachim Meyer schließlich zum Wendepunkt werden soll. In diesem Jahr lernt er seine spätere Frau Susanne kennen. Er arbeitet damals noch beim Sicherheitsdienst des HSV – sie beim Sicherheitsdienst von Hansa Rostock. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Damals ist bereits klar, dass Joachim Meyer früher oder später eine neue Niere braucht. Das Paar kennt sich nicht lange, als Susanne sagt: „Du kriegst meine.“

Die Entscheidung für diesen Liebesbeweis sei ihr kein bisschen schwergefallen: „Ich habe zwei Nieren und brauche nur eine“, sagt die heute 41-Jährige. „Joachim ist so ein herzlicher Mensch. Ich konnte es nicht ertragen, ihn leiden zu sehen. Für mich war klar: Natürlich machen wir das.“ Doch ganz so einfach ist das nicht. Denn die Ethikkommission der Landesärztekammer muss eine solche Transplantation in einem Gutachten befürworten. Und die lehnt die Lebensspende trotz der Spendenbereitschaft ab.

Die Ethikkommission lehnte die Lebensspende zunächst ab

„Eine der Begründungen war, dass wir nicht verheiratet waren“, sagt Susanne Meyer. Außerdem haben die Ärzte damals Bedenken in Sachen Kinderwunsch. Denn die Rostockerin ist mit Anfang 30 im besten Alter, um eine Familie zu gründen. Für Frauen mit nur einer Niere kann es schwierig sein, schwanger zu werden. „Bevor ich Joachim kennengelernt habe, wäre ich offen für eigene Kinder gewesen. Aber dann war das nicht mehr wichtig.“ Die Liebe zu Joachim ist stärker als der Kinderwunsch.

Trotzdem kommt das Paar bei der Ethikkommission zunächst nicht weiter – ein herber Schlag für beide. Doch sie geben nicht auf. Am 4. April 2014 heiraten sie und starten einen weiteren Versuch. Die Ethikkommission bewertet die Situation neu. Ein psychologischer Gutachter befragt die beiden erst einzeln, dann zusammen. „Diese eine Stunde hat sich schlimmer angefühlt als acht Stunden Arbeit“, sagt Susanne Meyer. „Wir wussten, wie viel da dranhängt.“

Wegen eines Herzinfarktes musste das Paar ein weiteres Jahr warten

Joachim Meyer, der gern mal ein Späßchen macht, muss aufpassen, nichts Falsches zu sagen. „Ich wurde gefragt, ob ich meine Frau schlage, ob ich sie bezahle dafür, dass sie mir die Niere gibt oder ihr dafür einen teuren Urlaub versprochen habe.“ Doch der Schweiß und die Nerven, die das Paar die Gespräche kosten, zahlen sich aus. Joachim Meyer: „Am Ende stand meine Frau vor mir, hat mich an den Händen gehalten und gefragt, ob ich ihre Niere haben möchte. Da haben wir beide geweint.“

Eigentlich ist die Spende für Winter 2017 geplant gewesen. Aber nach einem Konzert erleidet Meyer einen weiteren Herzinfarkt, die Transplantation muss um ein Jahr verschoben werden. Nach so vielen Jahren des Wartens ist das für die Eheleute eine weitere bittere Enttäuschung. Doch schließlich das Happy End: Am 13. Dezember 2018 wird Joachim Meyer in einer mehrstündigen Operation die Niere seiner Frau transplantiert. Die Operation verläuft ohne Komplikationen, beiden geht es danach gut.

Der 13. Dezember ist für Joachim Meyer wie ein zweiter Geburtstag

Fünf Jahre ist das nun her. Seitdem ist der 13. Dezember für Joachim Meyer so etwas wie ein zweiter Geburtstag. „Viele Freunde denken zu dem Datum an uns und schicken Karten. Wir werden auch dieses Jahr bestimmt wieder eine Flasche Sekt aufmachen“, sagt Joachim Meyer. Mit der neuen Niere, die übrigens Susi heißt, lebe es sich wunderbar, der Körper zeigt keine Abstoßungsreaktion. Auch seiner Frau geht es gut. „Ich habe keine Veränderung festgestellt“, sagt sie.

Ihr Mann indes schon. „Susanne liebt Jägermeister. Ich mochte den nie und habe stattdessen immer Kümmel getrunken“, so Meyer. „Seit ich ihre Niere habe, mag ich auch Jägermeister. Außerdem esse ich heute gerne Wild und schnarche nicht mehr. Das war vor der Transplantation anders.“ Ob das der Einfluss seiner Frau ist? So oder so: Susanne freut sich, ihrem Mann mit ihrer Niere ein neues Leben geschenkt zu haben. Und Joachim könnte kaum dankbarer sein. „Wäre die Situation andersherum gewesen, hätte ich ihr auch meine Niere gegeben.“

Ohne die Lebensspende wäre Joachim Meyer wohl noch heute auf die Dialyse angewiesen

Ohne die Lebensspende wäre Joachim Meyer vielleicht auch heute noch auf die Dialyse angewiesen. „Denn selbst zum Zeitpunkt der Transplantation, nach so vielen Jahren Wartezeit, hätte ich laut meinem Arzt wohl noch viele weitere Jahre gewartet“, sagt er. Seit 2012 war er auf der Transplantationsliste kein einziges Mal unter den ersten hundert Wartenden. „Ich finde es schon schade, dass die Spendenbereitschaft in Deutschland nach wie vor so gering ist“, sagt Joachim Meyer.

Auch interessant

Um Bürgerinnen und Bürger auf das Thema aufmerksam zu machen, veranstaltet das Krankenhaus Reinbek St. Adolf-Stift (Hamburger Straße 41) gemeinsam mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation am Donnerstag, 14. Dezember, von 14.30 bis 16.30 Uhr in der Aula der Pflegeschule (in der Nähe des Parkplatzes an der Loddenallee) einen Organspende-Infotag. Einlass ist ab 14.15 Uhr. Neben Infoständen im Foyer gibt es Kurzvorträge.

Ärzte und Pflegekräfte des St. Adolf-Stiftes berichten über Abläufe in einem Krankenhaus, die Gespräche mit Angehörigen bei einem Hirntod zur Einwilligung in die Spende und das Leben vor und nach einer Nierentransplantation. Es kommen auch Betroffene zu Wort: Eine Angehörige berichtet über die Entscheidung, der Organentnahme zuzustimmen. Auch Joachim Meyer wird an diesem Tag vor Ort sein und von seinen Erfahrungen mit der Lebensspende berichten. Weitere Informationen zum Programm gibt es im Internet unter www.krankenhaus-reinbek.de.