Ahrensburg. Nutzer können auch virtuelle Kerzen entzünden. In diesen sieben Stormarner Orten liegen die Messingtafeln in Fußwegen.

Sie erinnern an Opfer des Nationalsozialismusin direkter Nachbarschaft: die Stolpersteine, von denen der Kölner Künstler Gunter Demnig inzwischen mehr als 100.000 verlegt hat. Im Mai 2003 war er zum ersten Mal in Schleswig-Holstein im Einsatz. In Ahrensburg setzte er einen seiner zehn mal zehn Zentimeter großen Betonquader mit Messingtafel für die kleine Anneliese Oelte in die Ernst-Ziese-Straße. Einen digitalen Überblick über die mittlerweile 820 Stolpersteine landesweit will eine jetzt veröffentlichte App des Landesbeauftragten für politische Bildung verschaffen.

Zunächst sind in der App „Stolpersteine SH“ die 270 Standorte in Kiel und die 36 in Rendsburg zu finden. Ziel ist es, dass nach und nach alle Orte aufgenommen werden. „Vielleicht schaffen wir das ja sogar vor dem 9. November nächsten Jahres“, sagt der Landesbeauftragte Christian Meyer-Heidemann. Dann jährt sich die Reichspogromnacht zum 86. Mal.

„Stolpersteine SH“: Scan mit der Kamera führt zur Biografie

Wer die App auf seinem Smartphone hat, kann mit der Kamera die Stolpersteine scannen und so die Biografie des Menschen abrufen, an den dort erinnert wird. Zusätzlich gibt es eine Gedenkfunktion. Mithilfe von Augmented Reality kann eine Kerze platziert werden und mit einer Botschaft und dem eigenen Namen ergänzt werden. Andere Nutzerinnen und Nutzer können diese Kerzen dann auf ihrem Mobiltelefon sehen. Die virtuellen Kerzen bleiben für sieben Tage.

2016 verlegte der Künstler Gunter Demnig vier Stolpersteine für die Familie Rath in Ahrensburg.
2016 verlegte der Künstler Gunter Demnig vier Stolpersteine für die Familie Rath in Ahrensburg. © HA

Der Landesbeauftragte für politische Bildung hofft, insbesondere junge Menschen zu erreichen. „Die App ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer digitalen Erinnerungskultur. Besonders die Möglichkeit, über eine virtuelle Gedenkkerze Anteil zu nehmen, stärkt die Auseinandersetzung mit den Stolpersteinen und den Biografien der Opfer des Nationalsozialismus“, sagt Christian Meyer-Heidemann.

Wer etwas zu den Stolpersteinen weiß, kann sich melden

Bei der Ausweitung auf ganz Schleswig-Holstein hoffen die Verantwortlichen auf die Unterstützung auch aus Stormarn. „Lokale Initiativen, die sich vor Ort um die Verlegung der Stolpersteine gekümmert haben, können sich dafür ab sofort bei uns melden“, sagt der Landesbeauftragte. Selbstverständlich sind auch Tipps von Einzelpersonen willkommen.

Die in Fußwege eingebetteten Gedenksteine, die an jüdische Bürger, Sinti und Roma, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Euthanasieopfer erinnern, liegen in mehr als 60 Städten und Gemeinden. Im Kreis Stormarn wurden Stolpersteine bisher in Ahrensburg, Bad Oldesloe, Bargteheide, Glinde, Reinbek, Reinfeld und Tangstedt verlegt. Ein Überblick über die Standorte und Menschen.

Ahrensburg, Große Straße 42: Der im Mai 1885 geborene Magnus Lehmann wurde in der Reichspogromnacht 1938 ebenso von den Nazis verhaftet wie seine Brüder Harry und Ludwig. Die jüdische Familie betrieb einen Kornhandel. Alle drei wurden ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Weil sie versicherten, das Land zu verlassen, kamen sie wieder frei. Harry und Ludwig gelang die Flucht nach Südamerika. Magnus wurde im Dezember 1941 nach Minsk deportiert und dort mit 56 Jahren ermordet.

Ahrensburg, Ernst-Ziese-Straße 2: Anneliese Oelte wurde nur zehn Jahre alt. Nach der Geburt 1934 führte eine Kinderlähmung zu einer verzögerten geistigen Entwicklung. 1938 wurde sie von den Eltern getrennt und in die Alsterdorfer Anstalten nach Hamburg eingewiesen. Fünf Jahre später wurde sie in den Steinhof nach Wien deportiert, wo sie an den Folgen von Hunger und Verwahrlosung starb. Der Anstoß für den Stein kam von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf. Zur Einweihung kam auch eine Nichte von Anneliese Oelte.

Ahrensburg, Waldstraße 8: Vier Stolpersteine sind der Familie Rath gewidmet, die unter schwersten Denunziationen litt. Veronika Rath (Jahrgang 1883), die Frau des Arztes Dr. Hugo Rath (Jahrgang 1876), war Jüdin und zur Evangelisch-L Kirche konvertiert. Sie hielt die ständigen Anfeindungen nicht aus und beging im August 1938 im Alter von 55 Jahren Suizid. Ihr Mann konnte danach nicht mehr arbeiten, begann aus Verzweiflung zu trinken und starb im Oktober 1940. Der 1919 geborene Sohn Fritz Ulrich Rath verließ Deutschland 1939 mithilfe eines Onkels, um in Asien zu arbeiten. 1940 wurde er in Celebes (heute Sulawesi) als „feindlicher Ausländer“ verhaftet und sechseinhalb Jahre interniert. 1946 kehrte er kurz nach Ahrensburg zurück. Er wanderte in die USA aus, wo er bis zu seinem Tod 2007 lebte.

Die jüngere Schwester Dorle Rath (1921 geboren) überlebte dank der Unterstützung von Freunden. Nach Kriegsende machte sie Karriere als Schlagersängerin und führte das von ihren Eltern gegründete Ambulatorium als Krankengymnastin weiter. Bis zu ihrem Tod 1989 lebte die als fröhlich und hilfsbereit bekannte Frau in Ahrensburg.

Bad Oldesloe, Hindenburgstraße 49: Hans Wöltje wurde im Januar 1897 als Sohn des deutschen Konsuls in Santos (Brasilien) geboren und kam als Kind mit seiner Familie nach Bad Oldesloe. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg und trat 1924 den Zeugen Jehovas bei, die von den Nationalsozialisten verboten wurden. Erst verlor er seine Anstellung, dann kam er über das Zuchthaus Lübeck in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau. Dort wurde er am 2. Juni 1942 im Alter von 45 Jahren ermordet.

Bad Oldesloe, Kirchberg 4: Der 1883 auf Rügen geborene Robert Kersten war auf seiner Heimatinsel zunächst in der KPD und später in der SPD aktiv. 1934 zog der Eisenbahner nach Bad Oldesloe. Dort war er nicht mehr politisch aktiv, arbeitete als Kriegsinvalide ab 1941 als Stadtbote. Nach dem missglückten Hitler-Attentat 1944 nahm die Gestapo etwa 5000 SPD- und KPD-Funktionäre fest, darunter auch Robert Kersten. Er kam erst ins Gefängnis nach Lübeck, dann nach Kiel und ins Konzentrationslager Neuengamme. Am 27. Februar 1945 wurde er mit 61 Jahren umgebracht.

Bargteheide, Am Bargfeld 6: „Stalingrad, das ist das Ende, der Krieg ist aus“: Dieser Satz kostete den Bargteheider Ernst August Bastian das Leben. Sein Gespräch in den Walther-Werken, einem Ahrensburger Rüstungsbetrieb, wurde belauscht. Bastian wurde wegen „Wehrkraftzersetzung“ denunziert, von der Gestapo verhaftet und im November 1943 ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel nach Hamburg gebracht. Dort starb er am 22. Januar 1945. Der Stolperstein liegt vor dem Haus, das Ernst August Bastian gebaut hatte und in dem seine Kinder und Enkelkinder geboren wurden.

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Glinde, Eichloh/Ecke Holstenkamp: „Erinnert Euch – Vergesst niemals“ steht auf der Stolperschwelle, die am ehemaligen Eingang zum Arbeitslager Wiesenfeld für das Kurbelwellenwerk Hamburg liegt. Der einen Meter lange Metallbalken erinnert an die Leiden der Zwangsarbeiter. Bis zu 3000 Menschen hausten ab 1942 in den Baracken des größten Lagers in Schleswig-Holstein. Allein innerhalb von sechs Wochen Ende 1941/Anfang 1942 sollen 120 russische Kriegsgefangene an Unterernährung und Entkräftung gestorben sein.

Reinbek, Bahnsenallee 49: Der im Juni 1883 geborene Hermann Apel lebte als Studienrat im Ruhestand in Reinbek. Seine Dissertation, die er 1910 an der Vereinigten Friedrichs-Universität in Halle an der Saale geschrieben hatte, trug den Titel „Die Tyrannis von Herakles“. Am 5. Oktober 1939 wurde er von der Gestapo verhaftet und kam ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel. Sechs Tage später wurde er ermordet.

Reinbek, Hamburger Straße 23: Jacob Hans Bauer stellte sich als Kommunist offen gegen Hitler. Im Alter von 40 Jahren wurde er 1939 verhaftet und in das Konzentrationslager Dachau transportiert. Dort wurde er am 19. Mai 1941 umgebracht.

Reinbek, Kückallee 43: Zwei Stolpersteine wurden für den Juristen Dr. Arthur Goldschmidt (Jahrgang 1873) und seine Frau Katharina (Jahrgang 1882) verlegt, die wegen ihrer jüdischen Herkunft verfolgt wurden. 1916 war die Familie aus Hamburg in eine Villa nach Reinbek gezogen. Nach seiner Zwangspensionierung am Oberlandesgericht widmete sich Arthur Goldschmidt intensiv der Malerei. Sowohl Bürgermeister als auch Landrat setzten sich gegen die drohende Deportation des Ehepaars ein. Am 2. Juni 1942 starb die vom ständigen Druck entkräftete „Kitty“ Goldschmidt.

Das Goldschmidt-Haus in Reinbek.
Das Goldschmidt-Haus in Reinbek. © HA

Einen guten Monat später, am 20. Juli, wurde Arthur Goldschmidt ins Konzentrationslager Theresienstadt abtransportiert. Er gründete eine evangelische Gemeinde, überlebte und kehrte nach der Befreiung im Mai 1945 nach Reinbek zurück. Dort war er Mitgründer der CDU-Ortsgruppe, wurde 1946 stellvertretender Bürgermeister und zog in den Kreistag ein. Am 9. Februar 1947, dem Eröffnungstag der von ihm mitgegründeten Volkshochschule, starb er überraschend.

Reinbek, Johannes-Kröger-Weg 3a: Der 1876 geborene Johannes Kröger wuchs auf dem Gutshof Silk auf und lernte Schmied. Nach seiner Hochzeit baute er sein Haus in Schönningstedt. Ab 1922 engagierte er sich für die SPD als Gemeindevertreter. Weil er „Feindsender“ hörte, wurde er denunziert und 1940 von der Gestapo verhaftet. Sein Weg führte über Fuhlsbüttel und Lübeck ins Konzentrationslager Dachau. Sein Todestag war der 15. November.

Reinbek, Lindenstraße 25: Helene Ilse Talke, im März 1899 geboren, hatte vor ihrer Hochzeit die jüdische Religionszugehörigkeit abgelegt. 1938 kam die geschiedene Frau mit ihrem Sohn Heinz-Martin Talke (Jahrgang 1920) nach Reinbek. Die Gestapo zwang sie 1942 erst zum Umzug nach Hamburg und brachte sie im Juli des Jahres nach Theresienstadt. Sie überlebte und kehrte 1945 zu ihrem Sohn zurück, der allein in der Hansestadt geblieben war. Beide starben im Jahr 1975.

Reinfeld, Carl-Harz-Straße 6: Der Schiffsmakler und Schriftsteller Carl Harz (Jahrgang 1860) zog Anfang des 20. Jahrhunderts aus Hamburg nach Reinfeld. Wegen seiner sozial-religiösen Schriften geriet er ins Visier der Nazis und erhielt 1939 ein Veröffentlichungsverbot. Als seiner beiden Töchter 1943 in Hamburg ausgebombt wurden, forderte er in einem Telegramm an Hitler, den Krieg sofort zu beenden. Die Folge war, dass die Gestapo ihn in Lübeck-Lauerhof inhaftierte. Am 13. August 1943 nahm er sich im Gefängnis das Leben.

Reinfeld, Paul-von-Schoenaich-Straße 36: Der vierfache Vater Richard Minkwitz (Jahrgang 1886) war ein kommunistisch organisierter Arbeiter. 1933 wurde er von der Gestapo in Bad Oldesloe in „Schutzhaft“ genommen. Am 7. September kam er dort ums Leben – wahrscheinlich wurde er zu Tode geprügelt.

Tangstedt, Wulksfelder Damm 15-17: Die 1909 in Polen geborene Czeslawa Jaglinski hatte am 24. April 1944 in ihrer Heimat eine Tochter zur Welt gebracht, die ebenfalls den Namen Czeslawa bekam. Nur kurze Zeit später verschleppten die Nazis die Eltern mitsamt ihren fünf Kindern zur Zwangsarbeit auf Gut Wulksfelde. Weil es dort bewusst wenig zu essen gab, starb die kleinste Tochter einen Tag vor ihrem ersten Geburtstag: Sie war verhungert.