Ahrensburg. Die Bundestagsabgeordnete und der Spitzenkandidat der Stormarner Liberalen, Thomas Bellizzi, sprechen über Zustand ihrer Partei.
Gaspreisdeckel, Atomkraftwerke, Verbrenner-Aus – nur ein Jahr nach dem Start der Ampel-Koalition ist die Liste der Streitpunkte zwischen den drei Partnern SPD, Grünen und FDP lang. Besonders den Liberalen scheint die Ampel bislang nicht gut zu bekommen: In den Umfragen geht es für die Partei von Finanzminister Christian Lindner seit geraumer Zeit abwärts. Zuletzt standen die Liberalen im ZDF-Politbarometer bei nur noch fünf Prozent.
Doch während der FDP im Bund noch Zeit bis 2025 bleibt, um die Trendwende zu schaffen, haben die Liberalen in Stormarn weitaus mehr Grund zur Sorge: In ziemlich genau sechs Monaten, am 14. Mai 2023, werden in Schleswig-Holstein die Kommunalparlamente neu gewählt. Und die FDP möchte ihre traditionell guten Ergebnisse im wirtschaftsstarken Stormarn halten. Die aktuellen Querelen in Berlin kommen da denkbar ungelegen.
Im Interview mit dem Abendblatt sprechen der Spitzenkandidat der FDP für die Kommunalwahl, Thomas Bellizzi, und die stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion, Gyde Jensen, darüber, wie die Partei ein halbes Jahr vor der Wahl zurück in die Erfolgsspur kommen kann, welche Themen aus kommunal- und aus bundespolitischer Sicht wichtig werden und wie sich das Regieren in Berlin auf die politische Arbeit vor Ort auswirkt.
Frau Jensen, Herr Bellizzi, die FDP musste bei den jüngsten vier Landtagswahlen große Stimmverluste hinnehmen, in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein flog Ihre Partei aus der Regierung, in Niedersachsen aus dem Landtag. Und in Umfragen für den Bundestag hat sich die FDP seit der Wahl 2021 auf aktuell nur noch fünf bis sechs Prozent quasi halbiert. Wie lässt sich dieser Abwärtstrend erklären?
Jensen: Zunächst einmal: Ich habe schon deutlich schlechtere Umfragewerte erlebt, deshalb bin ich noch ruhig. Aber es ist natürlich so, dass wir bei den vergangenen Wahlen schlechter abgeschnitten haben, als wir uns das gewünscht haben. Die Gründe dafür sind von Landesverband zu Landesverband unterschiedlich, insofern würde ich nicht von einem allgemeinen Abwärtstrend sprechen. In Schleswig-Holstein ist es uns nicht gelungen, die Erfolge unserer Minister Heiner Garg und Bernd Buchholz klar zu kommunizieren. Ministerpräsident Daniel Günther hat diese Leistungen oft für sich verbucht.
Bellizzi: Daniel Günther hat einfach eine hervorragende Kampagne gefahren, das muss man anerkennen. Es wurde leider oft vergessen, dass die FDP einen wesentlichen Anteil an der Erfolgsbilanz der Jamaika-Koalition hatte. Schleswig-Holstein ist unter einem liberalen Gesundheitsminister von allen Ländern am besten durch die Pandemie gekommen, und auch beim weiteren Ausbau der Verkehrsinfrastruktur haben wir mit unserem Wirtschaftsminister viel erreicht. Wir haben im Wahlkampf aber nicht genug deutlich gemacht, dass es für eine Fortführung des Erfolgsprojektes Jamaika drei starke Partner braucht. Und bezogen auf den Bund: Im Rückblick muss man selbstkritisch sagen, dass die von der FDP vorangetriebene Debatte um Lockerungen der Corona-Maßnahmen zu Jahresbeginn im Timing schlicht ungünstig war. Zeitlich stand eine Verlängerung des Infektionsschutzgesetzes an, da dieses auslief. Manches, was da beschlossen worden ist, war richtig. Einiges hätte ich mir anders vorgestellt, z.B. beim Schutz der vulnerablen Gruppen. Aber für die Menschen vor Ort, das habe ich als Kommunalpolitiker mitgenommen, war der Zeitpunkt der Lockerungen nicht verständlich. Hier haben wir bei der Kommunikation versagt und die Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidungsfindung nicht mitgenommen.
Die FDP regiert erstmals seit 2013 wieder im Bund mit. Vom fast schon überschwänglichen Optimismus der Koalitionsverhandlungen ist nach nur einem Jahr aber wenig übrig. Stattdessen vermittelt die Koalition das Bild eines Dauerzwists, insbesondere zwischen den Ministern Lindner und Habeck. Ist die Ampel eine Bürde für die Basisarbeit vor Ort?
Bellizzi: Die Regierungsbeteiligung verändert die Arbeit auf kommunaler Ebene. Als Teil der Regierung sind wir mehr gefordert, vor Ort zu erklären, was auf Bundesebene passiert. Ich habe selbst schon erlebt, dass Menschen zu mir kommen und fragen, warum macht ihr in Berlin dieses oder warum macht der Lindner nicht jenes. Natürlich gibt es auch mehr kritische Fragen, wenn man in Regierungsverantwortung ist. Aber immerhin haben wir die Möglichkeit, zu gestalten und liberale Politik umzusetzen. Opposition ist Mist, hat Franz Müntefering mal gesagt. Und damit hat er Recht.
Jensen: Ich erlebe die Stimmung in der Koalition viel positiver, als in der Öffentlichkeit häufig dargestellt wird. Wir wussten von Beginn an, dass Konflikte in einigen Themenfeldern vorprogrammiert sind, insbesondere FDP und Grüne haben in einigen Punkten unterschiedliche Überzeugungen. Und in einer Koalition werfen wir diese Überzeugungen um der Harmonie Willen nicht mal eben über den Haufen. Aber menschlich, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen, verstehen wir uns gut. Und in vielen Bereichen liegen wir gar nicht so weit auseinander.
Welche Bereiche sind das?
Jensen: Zum Beispiel die Bildungspolitik, da funktioniert die Zusammenarbeit sehr gut. Wir haben die Bafög-Reform auf den Weg gebracht mit der Möglichkeit, einen Antrag digital zu stellen und haben den Kreis der Berechtigten ausgeweitet. Bildungs- und Teilhabechancen erhöhen, das Aufstiegsversprechen einlösen, das ist einer der zentralen Punkte, für welche die FDP steht.
Die Jamaika-Koalition in Kiel hat deutlich geräuschloser regiert als jetzt die Ampel in Berlin. Woran liegt das? Wäre die FDP in einer Koalition mit CDU/CSU und Grünen besser gefahren?
Jensen: Das sehe ich nicht so. Viele unserer Ziele wären mit der Union gar nicht umsetzbar, gerade im gesellschaftspolitischen Bereich. Ich habe die letzte schwarz-gelbe Koalition im Bund als Mitarbeiterin in einem Abgeordnetenbüro erlebt und muss sagen, dass die Stimmung damals deutlich schlechter war. Die Zusammenarbeit war nicht vertrauensvoll. Insofern: Ich bin ein Fan der Ampel. Zumal wir vor einem Jahr einer Union gegenübergestanden, die heillos zerstritten und nicht in der Lage war, irgendeine Koalitionsverhandlung zu bestreiten. Das darf man nicht vergessen.
Bellizzi: Ich denke nicht, dass die Union der natürliche Koalitionspartner der FDP sein muss. Die Regierungszeit der sozialliberalen Koalition unter Brandt und Schmidt zählt meiner Meinung nach zu den Perioden, in denen die FDP mit die beste Politik gemacht hat. Aus meiner Sicht ist es außerdem legitim, auch mal in der Sache zu streiten. Sonst braucht es keine verschiedenen Parteien. Wichtig ist, dass wir uns gegenseitig zuhören und Argumente nicht zur Show vorgetragen werden, sondern um die beste Lösung für das Land und die Menschen zu finden.
Und warum hat es dann mit Jamaika so viel besser geklappt als jetzt in der Ampel? Herr Bellizzi, Sie waren als persönlicher Referent des Gesundheitsministers hautnah dabei. Wo liegen die Unterschiede?
Bellizzi: Zum einen ist mein Eindruck gewesen, dass in der Jamaika-Koalition sehr vertrauensvoll, auf Augenhöhe und hoch professionell zusammengearbeitet und Streitpunkte eben nicht in der Presse diskutiert wurden. Dadurch war die Kommunikation nach außen hin auch eine andere - nämlich deutlich positiver. Zum anderen waren die Themen andere. Daher gab es einfach weniger Konfliktpotenzial. Es ist aber auch so, dass die mediale Aufmerksamkeit für das, was in Berlin passiert, einfach größer ist. Unter dem Brennglas der öffentlichen Wahrnehmung lässt es sich deutlich schwieriger arbeiten.
Christian Lindner pocht – zum Unmut der beiden Koalitionspartner SPD und Grüne – auf die Einhaltung der Schuldenbremse. Angesichts der aktuellen Herausforderungen stößt das bei vielen Menschen auf Unverständnis. Bedient der Finanzminister damit nicht das Klischee der FDP als sozial kalter Partei der Wohlhabenden und Pfennigfuchser?
Jensen: Als Finanzminister ist es die Aufgabe von Christian Lindner, für fiskalische Stabilität zu sorgen. Wir befinden uns in einer herausfordernden wirtschaftlichen Lage, in der wir schauen müssen, was wir uns wirklich leisten können. Das müssen viele Menschen derzeit auch. Man kann nicht nur Geld ausgeben, Projekte müssen auch finanziert werden. Ein sorgfältiger Umgang mit Haushaltsmitteln ist auch kein Selbstzweck, sondern eine Frage der Generationengerechtigkeit. Für 2023 müssen wir im Bundeshaushalt mit 40 Milliarden Euro für Zinsen planen, das ist Geld, das wir in die Zukunft investieren könnten.
Bellizzi: Ich sehe das in Teilen etwas anders. Was bringt es uns, wenn wir die Schuldenbremse einhalten, aber viele Unternehmen in zwei Jahren nicht mehr vorhanden sind? Besonders die Mittelschicht, aber auch der Mittelstand und der Einzelhandel, brauchen ein Signal, dass wir sie nicht vergessen haben. Ein Großteil der Arbeitsplätze hängt an diesen Bereichen. Ich habe deswegen die klare Erwartungshaltung an den Bund, dass besonders im Bereich der Energiekosten die beschlossenen Maßnahmen schnellstmöglich umgesetzt werden und die Bürgerinnen und Bürger aber auch der Mittelstand endlich entlastet werden. Viele Familien und Unternehmen haben nicht die Zeit, um noch Monate zu warten, während in Berlin um die Art und Form der Umsetzung gerungen wird.
Blicken wir zum Schluss noch einmal auf die Kommunalwahl. Mit welchen Themen möchte die FDP punkten, Herr Bellizzi? Auf welche Schwerpunkte sollten Ihre Parteikollegen in Stormarn setzen, Frau Jensen?
Bellizzi: Es ist ganz wichtig, dass wir nicht den Fehler machen, nur einzelne Gruppen anzusprechen. Wir müssen deutlich machen, dass die FDP Politik für alle Bürgerinnen und Bürger macht. Wie stellen wir die Gesundheitsversorgung sicher? Wie rüsten wir den Rettungsdienst für die Zukunft? Das sind Themen, die mir als Gesundheitspolitiker am Herzen liegen. Daneben sind Bildung, Kitas, der Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehrs und bezahlbares Wohnen wichtige Punkte. Wer in Stormarn arbeitet, sollte es sich auch leisten können, hier zu wohnen.
Jensen: Ein wichtiges Thema für die Menschen ist auch die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen. Mit der Digitalisierungsstrategie hat Minister Wissing hierfür auf Bundesebene einen konkreten Fahrplan vorgelegt. Grundsätzlich denke ich, dass wir als Bundespolitiker nicht den Fehler machen sollten, mit Arroganz auf die kommunale Ebene herabzublicken. Oft wird vor Ort viel pragmatischer gearbeitet, davon können wir uns im Bundestag eine Scheibe abschneiden.
Die Bundespolitikerin: Gyde Jensen
Gyde Jensen sitzt seit fünf Jahren für die FDP im Bundestag. Bei ihrem erstmaligen Einzug ins Parlament 2017 war die gebürtige Rendsburgerin mit 28 Jahren die jüngste weibliche Abgeordnete. Die heute 33-Jährige machte ihr Abitur 2009 an der Jungmannschule in Eckernförde, studierte danach Anglistik, Nordamerikanistik und Internationale Politik in Kiel. In der Landeshauptstadt lebt Jensen mit ihrem Mann und zwei Kindern. Ihren Wahlkreis hat sie in Nordfriesland. Von Januar 2018 bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 leitete Jensen im Bundestag den Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. Aktuell ist sie stellvertretende Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion. Zudem gehört die 33-Jährige dem Landes- und Bundesvorstand der FDP an.
Der Kommunalpolitiker: Thomas Bellizzi
Thomas Bellizzi ist trotz seines jungen Alters von 40 Jahren so etwas wie ein Urgestein der Stormarner Kommunalpolitik. Seit 15 Jahren sitzt er in seiner Heimatstadt Ahrensburg für die FDP in der Stadtverordnetenversammlung, ist dort inzwischen auch Fraktionsvorsitzender. Dem Kreistag gehört Bellizzi bereits seit 2003 an, hat auch dort jüngst den Fraktionsvorsitz übernommen. 2023 tritt er als Spitzenkandidat an. Beruflich war der Diplom-Verwaltungswirt nach dem Abitur an der Selma-Lagerlöf-Gemeinschaftsschule in Ahrensburg bereits im Bundesentwicklungsministerium tätig. Derzeit wirkt Bellizzi im Kieler Gesundheitsministerium, wo er bis zum Ausscheiden der FDP aus der Landesregierung im Sommer persönlicher Referent des Ministers Heiner Garg war.