Lübeck/Grönwohld. Gutachterin sieht Unstimmigkeiten zwischen Verletzungsbild und Angaben des Angeklagten. Was dieser zum Verbleib der Tatwaffe sagt.

Der Verbleib des Messers, durch das der 22 Jahre alte Mohamed C. auf einem Spielplatz in Grönwohld starb, wird wohl für immer ungeklärt bleiben. „Dazu möchte ich keine Angaben machen“, hieß es in einer schriftlichen Erklärung, die der Angeklagte, der 23 Jahre alte Nick G. (Name geändert), am Dienstag vor dem Landgericht Lübeck von seinem Anwalt vorlesen ließ. Ohne die Tatwaffe wird es voraussichtlich nicht möglich sein, die Bluttat vom 21. Oktober 2020 restlos aufzuklären.

Die Staatsanwaltschaft wirft Nick G. vor, seinen Bekannten an jenem Tag gegen 22 Uhr mit 27 Messerstichen getötet zu haben. Zuvor sollen die jungen Männer über gemeinsame Drogengeschäfte gestritten haben. Demnach hatte der Angeklagte Schulden bei Mohamed C., informierte ihn an jenem Abend außerdem darüber, aus den gemeinsamen Geschäften aussteigen zu wollen. Die Anklagebehörde stützt sich dabei auf die Auswertung von Handy-Chats. C.s Leichnam war am Mittag des Folgetags von einem Anwohner entdeckt worden.

Grönwohld-Prozess: Rechtsmedizinerin sieht Unstimmigkeiten in Geständnis

Bereits Anfang Juni 2021 war G. vom Landgericht Lübeck wegen Totschlags zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte allerdings beanstandet, die Richter hätten die rechtliche Einordnung als Totschlag damals nicht ausreichend begründet und nicht nachvollziehbar ausgeschlossen, dass es sich um einen Mord handelt. Für eine Verurteilung wegen Mordes müssen bestimme Tatmerkmale wie Heimtücke oder niedrige Beweggründe nachgewiesen werden.

Die Familie des Getöteten sieht diese Voraussetzungen als erfüllt an. Sie möchte eine lebenslange Freiheitsstrafe für Nick G. erreichen und hatte deshalb Revision beantragt. Der BGH folgte der Einschätzung teilweise und ordnete eine erneute Verhandlung vor einer anderen Kammer des Landgerichts an. G.s Schuld stellten die Leipziger Richter nicht infrage.

Angeklagter bestreitet, die Tötung seines Bekannten geplant zu haben

Der Anwalt des 23-Jährigen hatte angekündigt, sein Mandant werde am dritten Verhandlungstag am Dienstag zu den Fragen von Gericht, Staatsanwaltschaft und Nebenklage schriftlich Stellung nehmen. G. hatte die Tötung seines Bekannten zum Auftakt des neuen Verfahrens Anfang November zwar gestanden, aber behauptet, diese nicht geplant zu haben. Auch habe nicht er die Waffe mit zu dem Treffen auf dem Spielplatz gebracht, sondern Mohamed C.

Dieser habe ihn, nachdem er seinen Ausstieg aus dem Drogengeschäft erklärt habe, mit einem Messer bedroht. Es sei zu einem Gerangel gekommen, bei dem C. die Waffe verloren habe und zu Boden gestürzt sei. „In Panik habe ich das Messer aufgehoben und aus Angst wahllos auf ihn eingestochen“, so G. in einer damals verlesenen Erklärung. Anschließend sei er „wie in Trance“ nach Hause gegangen und habe die Waffe am Folgetag entsorgt.

Der Beschuldigte äußert sich detailliert zum Tatgeschehen

Wo, wollte die Vorsitzende Richterin Gesine Brunkow daraufhin wissen und bekam nun keine Antwort. Dafür lieferte G. eine Beschreibung, wie das Messer ausgesehen habe. Demnach habe es um eine sichelförmige, schwarz lackierte Klinge und einen schwarzen Gummigriff gehandelt. Für einen sicheren Griff habe die Waffe Mulden für die Finger und eine Einkerbung für den Daumen gehabt.

Auch zum Tatgeschehen machte G. über seinen Anwalt schriftlich weitere Angaben. Demnach saßen die jungen Männer zunächst nebeneinander auf einem Tisch, ehe C. das Messer zog und Nick G. ihn zu Boden schubste. „Das Messer lag etwa einen Meter entfernt von mir in Höhe seines Oberkörpers“, so der 23-Jährige. Als er es aufgehoben habe, habe er sich über sein Opfer gebeugt und diesen zwischen den Beinen fixiert, während er mit der rechten Hand zugestochen habe.

Beschriebenes Messer passt laut Gutachterin nicht zum Verletzungsmuster

„Erst versuchte er, sich zu bewegen und hat geschrien, dann war plötzlich Ruhe und er hat sich nicht mehr bewegt“, hieß es in der Erklärung des Angeklagten. Wie er das Messer anschließend nach Hause transportiert habe, daran wollte Nick G. sich nicht mehr erinnern. Bei dem Treffen gab es laut dem Angeklagten keine weiteren Gesprächsthemen außer seinen geplanten Ausstieg aus dem Drogengeschäft. Auch über Schulden sei nicht gesprochen worden.

Eine Rechtsmedizinerin wollte zwar nicht gänzlich ausschließen, dass sich die Tat zugetragen hat, wie von dem 23-Jährigen geschildert, äußerte in einigen Punkten aber erhebliche Zweifel. Besonders das von dem Angeklagten beschriebene Messer passe nicht zum Verletzungsmuster des Opfers. „Eine geschwungene Klinge hätte keine sauberen Schnittverletzungen erzeugt, wie wir sie hier vorfinden, sondern ein unruhiges, ungleichmäßiges Muster“, sagte Dr. Nadine Wilke-Schalhorst, Fachärztin für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Lübeck. Zudem hätte das Messer demnach an der Kleidung hängen bleiben und diese beim Herausziehen der Waffe aufreißen müssen. Die Jacke des Getöteten weise aber saubere Einstiche auf.

Rechtsmedizinerin geht davon aus, dass der 23-Jährige einen Schlagring benutzte

Ein gebogenes Messer als Tatwaffe schloss Wilke-Schalhorst daher aus. Nach Überzeugung der Rechtsmedizinerin handelte es sich stattdessen vermutlich um einen Schlagring mit ausklappbarer Klinge. Damit lasse es sich erklären, warum G. selbst bei seiner Festnahme vier Tage nach der Tat keine Verletzungen an den Händen aufgewiesen habe. „Bei Messern mit einem herkömmlichen Griff wären Schnitte typisch, die entstehen, wenn der Angreifer auf einen Widerstand, etwa Knochenstrukturen, trifft und abrutscht“, sagte sie.

Hinzu kommt, dass mehrere Zeugen, darunter die Ex-Freundin und ein Jugendfreund, einen solchen Schlagring in G.s Zimmer gesehen haben wollen. Nach dem Tatabend sei dieser verschwunden gewesen. Auch zum Verbleib dieses Gegenstands hatte das Gericht den 23-Jährigen befragt. Auch dazu wollte dieser, wie sein Anwalt erklärte, keine Angaben machen.

Mohamed C. hat sich während des Angriffs kaum gewehrt

Schwieriger als die Frage nach der Waffe stellte sich aus rechtsmedizinischer Sicht die Beurteilung der weiteren Ausführungen des Angeklagten zum Tatablauf dar. Laut Wilke-Schalhorst deutet das gleichmäßige Verletzungsmuster darauf hin, dass es keine Kampfhandlungen zwischen den Männern gab, Mohamed C. sich kaum bewegt oder gewehrt hat. „Warum, das wirft aus meiner Sicht Fragen auf“, so die Expertin.

Besonders für die Beurteilung, ob es sich um einen heimtückischen Angriff handelte, den C. nicht hätte kommen sehen können, ist diese Einschätzung entscheidend. Alle Stiche trafen demnach die Körperrückseite. Einer davon habe möglicherweise das Rückenmark im Nackenbereich beschädigt, was zu einer Lähmung geführt haben und das fehlende Abwehrverhalten hätte erklären können, so Wilke-Schalhorst. „Aufgrund des Vorgehens bei der Obduktion zur Entnahme des Gehirns können wir aber nicht mehr nachvollziehen, inwiefern das Rückenmark tatsächlich vollständig durchtrennt wurde“, sagte sie. Zudem lasse sich nicht auf die Reihenfolge der Stiche schließen.

Gutachterin möchte sich nicht auf genauen Ablauf der Tat festlegen

Trotz Nachstellung verschiedener Szenarien im Gerichtssaal wollte sich Wilke-Schalhorst nicht auf ein genaues Angriffsmuster festlegen. Aus Sicht der Rechtsmedizinerin ist sowohl eine Angriffssituation denkbar, in der G. sein Opfer umarmte oder am Kragen umklammerte, als auch, dass dieses zum Zeitpunkt der Attacke bereits am Boden lag. „Auf jeden Fall muss das Opfer fixiert gewesen sein, anders lässt es sich nicht erklären, dass trotz des Widerstands massive Kochen wie der Schädel durchstoßen wurden“, sagte sie.

Genau werde sich die Tat nicht rekonstruieren lassen, so Wilke-Schalhorst. „Dafür gibt es zu wenig gesicherte Informationen als Anhaltspunkte“, sagte sie. Aufgrund dieser Einschätzung verwarf das Gericht auch Überlegungen der Nebenklagevertreter, das Geschehen vor Ort auf dem Spielplatz nachstellen zu lassen. Das Verfahren wird am Freitag fortgesetzt. Dann sollen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Nebenklage bereits ihre Plädoyers halten. Das Urteil wollen die Richter am kommenden Dienstag, 22. November, verkünden.