Reinbek. Bei der TSV Reinbek trainieren Menschen mit Langzeitfolgen einer Corona-Infektion, um fitter zu werden. Wie das funktioniert.
Es ist Montag, 17 Uhr, der Tanzsaal eins im Gebäudekomplex der TSV Reinbek an der Theodor-Storm-Straße: Wie immer zu Wochenbeginn trifft sich die Long-Covid-Gruppe des Sportvereins. Neun Mitglieder plus Übungsleiterin Claudia Wieser sind dabei, vier fehlen. Sie sind körperlich nicht in der Lage, heute am Training teilzunehmen.
Das ist der Normalfall. In der Regel setzt jedes Mal rund ein Drittel aus. Alle haben Probleme mit der Lunge, einige darüber hinaus das Fatigue-Syndrom – ein Gefühl von anhaltender Müdigkeit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Es ist ein harter Kampf, um wieder ein Leben zu führen wie vor der Corona-Infektion.
Corona Schleswig-Holstein: Patienten werden nicht so fit woe früher
Dass es allen gelingt, daran hat Wieser große Zweifel. Die 55-Jährige ist hauptberuflich Medizinisch-technische Radiologieassistentin, gibt nebenbei als Honorarkraft Fitness-Kurse an der Volkshochschule Sachsenwald sowie bei der TSV unter anderem auch jene im Bereich der Orthopädie.
Sie sagt: „Patienten mit einem chronischen Fatigue-Syndrom werden wohl nicht so fit wie früher. Es müsste erst mal ein Medikament geben.“ Was sie mit ihren Schützlingen im Alter von 22 Jahren bis Mitte 70 unternimmt, würde einen gesunden Menschen nicht wirklich anstrengen. Die Kursteilnehmer gehen indes an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Es sind Gleichgewichts-, Atem-, Ausdauer- und Konzentrationsübungen.
Auf dem Aero-Stepper wird die Koordination gefördert
Zum Beispiel mit einem blauen Ball, den sich die Erkrankten zuwerfen. Sie stehen dabei im Kreis, der Abstand zum Nebenmann betragt etwa einen Meter. Das klappt noch ganz gut, dann wird es schwieriger. Beim Fangen muss in alphabetischer Reihenfolge der Name einer Stadt genannt werden. Der Kursus ist so aufgebaut, dass der Schwierigkeitsgrad der Bewegungsabläufe zunimmt. Zu Beginn stand das Heben, Senken und Halten der Arme auf dem Programm.
Nach einer Trinkpause bei dem 45 Minuten andauernden Training kommen die Aero-Stepper zum Einsatz, das sind Luftkissen, auf denen man die Koordination fördert. Erst geht es darum, sich mit einem Bein darauf zu halten. Eine ältere Dame hat enorme Schwierigkeiten und knickt immer wieder ein. „Unsere drei schwersten Fälle sind heute nicht anwesend, die können Übungen nur sitzend auf einem Stuhl machen“, sagt Wieser.
Sonja Berkau gibt sich viel Mühe auf dem Luftkissen. Sie hat den Ball in ihren Händen und geht langsam in die Kniebeuge, dann wieder hoch. Das macht die 40-Jährige mehrmals – ein Erfolg für die in Hamburg lebende Ergo-Therapeutin. Berkau hatte sich im Januar 2021 mit dem Virus infiziert. Also zu einer Zeit, als sie nicht berechtigt war, eine Impfung zu bekommen. Inzwischen hat Berkau den Geboosterten-Status. Ihre Leidensgeschichte ist lang.
„Ich war eineinhalb Jahre raus aus dem Job"
„Ich war eineinhalb Jahre raus aus dem Job, hatte eine beidseitige Lungenembolie. Ich konnte nicht einmal die Zähne putzen, wusste nicht mehr, wie man kocht und war dauernd müde.“ 20 Stunden habe sie am Anfang ihrer Erkrankung pro Tag geschlafen, jetzt sind es acht in der Nacht sowie ein bis drei kürzere Phasen bis zu 30 Minuten tagsüber.
„Es hapert noch an kognitiven Sachen“, sagt Berkau, die sich auch hat impfen lassen gegen Lungenentzündung. „Leider musste ich meinen Hund abgeben, weil ich nicht mehr in der Lage zum Gassigehen war.“
„Rechnen kann ich noch nicht"
Im Gegensatz zu Berkau, die klar und deutlich formulieren kann, hat Wolfgang Michael Probleme mit der Sprache. Mitunter ist seine Stimme plötzlich weg. Jetzt redet er langsam. Man merkt, wie er nachdenkt, welche Vokabeln zu verwenden sind bei einem Gespräch. Der Stapelfelder hatte sich mit Corona in einem Krankenhaus angesteckt, lag vier Wochen im künstlichen Koma. „Rechnen kann ich noch nicht, und das Lesen fällt mir schwer“, sagt der 70-Jährige. Er habe gerade wieder mit dem Radfahren begonnen.
Ralf Jost ist da schon ein Stück weiter, auch wenn er seinen Genesungsprozess als „generell sehr langsam und immer wieder von Rückschlägen begleitet“ bezeichnet. Sein Gleichgewicht scheine nachhaltig gestört zu sein. Der 68-Jährige kann inzwischen Bergwanderungen unternehmen, ohne nach wenigen Metern Luftnot zu bekommen und total erschöpft zu sein. Der Senior sagt: „Die Teilnahme am Kursus seit über einem Jahr hat erhebliche Verbesserungen gebracht. Ich kann mich lebendig an Gesprächen beteiligen und habe wieder mehr Spaß am Leben.“
Die TSV Reinbek hat derzeit 3706 Mitglieder
Für Wieser ist zudem der Austausch innerhalb der Gruppe elementar. Man lerne viel, wenn die Teilnehmer über ihre Erfahrungen mit Post-Covid, Ärzten und Themen wie Wiedereingliederung und Reha berichteten. Die Trainerin spult nicht einfach ein Programm ab, sondern passt Übungen den Personen an nach deren Fähigkeiten. Die Menschen mit Corona-Langzeitfolgen loben die von ihr gut durchdachten Einheiten.
Die Gruppe mit dem offiziellen Namen „Reha Post/Long-Covid-Syndrom“ gibt es seit Juli 2021. Initiator des Projekts ist Uwe Schneider, Sportlicher Leiter der 3706 Mitglieder zählenden TSV. Er hat Wieser auch schon als Coach vertreten und Situationen erlebt, die ihn traurig machen. „Kursteilnehmer haben die Anleitung in kürzester Zeit vergessen, wussten nicht mehr, was sie machen sollen. Das erinnerte mich an Demenz“, sagt der 52-Jährige. Der Gesundheitszustand der Betroffenen werde zwar besser, es sei allerdings ein langwieriger Prozess.
Corona Schleswig-Holstein: Projekt wurde ausgezeichnet
Die TSV Reinbek kooperiert mit Ärzten, die Erkrankte auf das Angebot hinweisen und Verordnungen ausstellen, eine Art Rezept. Der Verein rechnet die Leistung mit den Krankenkassen ab. Wer in ihm organisiert ist, kann ebenfalls mitmachen. Das Projekt ist hoch angesehen. Es wurde vor zweieinhalb Wochen mit dem „Stern des Sports“ auf Kreisebene ausgezeichnet. 1000 Euro bekam der Verein aus dem Stormarner Süden dafür. Das Geld wird in weitere Geräte investiert – zum Beispiel Balance Boards für Gleichgewichtsübungen. Außerdem bekommt Wieser für ihre Gruppe neue Softbälle. Bereits im Mai kam die TSV auf Platz drei im DAK-Gesundheitswettbewerb ob ihrer Aktivitäten im Long-Covid-Bereich, strich 300 Euro Preisgeld ein.
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In der Gruppe ist Platz für 20 Personen. „Wir würden bei Bedarf auch einen zweiten Kursus anbieten“, sagt Schneider. Er wundert sich, dass derzeit nur 13 Personen mitmachen, verweist auf eine Studie der Universitätsmedizin Mainz aus 2021. Demnach haben rund 40 Prozent aller Corona-Genesenen langfristig gesundheitliche Probleme. Von Long-Covid-Symptomen betroffen sind laut der Untersuchung häufiger Frauen als Männer. Passend dazu: Beim Kursus der TSV Reinbek sind die Damen in der Überzahl.