Nenndorf/Hittfeld. Ein Missbrauchsopfer hatte sich an die Öffentlichkeit gewandt und schwere Vorwürfe gegen einen Pastor erhoben.
Nach dem Bekanntwerden eines Missbrauchsfalls im Kirchenkreis Hittfeld bittet die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers mögliche weitere Betroffene, sich zu melden und so zur Aufarbeitung beizutragen. Der mittlerweile verstorbene Jörg Deneke, damals Pastor in der Kreuzkirchengemeinde Nenndorf, soll in den 1980er- und 1990er-Jahren nach bisherigen Erkenntnissen mindestens zwei junge Frauen sexuell missbraucht haben. Bei einer Pressekonferenz am Montag in Hittfeld berichtete eine dieser Frauen per Video von dem Missbrauch. Sie ist deswegen bereits seit 2015 in Kontakt mit der Landeskirche.
Landeskirche ermutigt Missbrauchsopfer, sich zu melden
„Ich hoffe, dass dieser Schritt an die Öffentlichkeit anderen Menschen Mut macht, ebenfalls von Übergriffen zu berichten oder einen Verdacht zu äußern“, sagt Oberlandeskirchenrat Dr. Rainer Mainusch, Leiter der Rechtsabteilung des Landeskirchenamtes Hannover. Bereits nach Ankündigung der Pressekonferenz hatten sich zwei weitere Frauen gemeldet, die angaben, von dem Pastor sexuell belästigt worden zu sein. Dieser starb 2013 im Alter von 70 Jahren.
Deneke sei sehr systematisch vorgegangen, sagt die Betroffene, die unter dem Pseudonym Katarina Sörensen auftritt. Zu Beginn der Übergriffe war sie 15 Jahre alt und gehörte einer Konfirmandengruppe an. Der Pastor habe gruppendynamische Prozesse genutzt und gezielt Bindungen aufgebaut. Heute sei sie sich sicher, dass er von Anfang an das Ziel verfolgt habe, sexuelle Übergriffe zu begehen. „Er ist langsam vorgegangen, sodass die Berührungen mir irgendwann normal vorkamen. Bis zum tatsächlichen Missbrauch war es dann kein so großer Schritt mehr.“
Sörensen sagt, der Pastor habe sie jahrelang missbraucht
Was der Pastor ihr in den Jahren zwischen 1988 bis 1997 angetan hat, hat Katarina Sörensen im vergangenen November – ebenfalls unter Pseudonym und ohne den Ort und den Namen des Täters zu nennen – für die Wochenzeitung „Die Zeit“ aufgeschrieben. In dem Artikel schildert sie, wie aus den ersten unangemessenen Annäherungen Schritt für Schritt ein Fall von massiver sexualisierter Gewalt wurde. „Er schlug Vertrauensspiele vor oder dass wir uns gegenseitig massierten. Einmal waren seine Hände dabei sehr hoch auf meinem Oberschenkel. Aber alle anderen waren ja im Raum.“
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Pastor soll in 80- und 90er Jahren Mädchen missbraucht haben
Wenig später habe er ihr am Rande einer Gemeindefeier beteuert, er liebe sie. Auf einer Konfirmandenfahrt, zu der sie als Betreuerin mitfahren durfte, habe er sie nachts auf dem Matratzenlager geküsst und gestreichelt. Katarina Sörensen, die bei einer psychisch labilen Mutter aufwuchs und sich zu Hause nicht wohlfühlte, fühlte sich endlich geliebt.
Sie verbrachte viel Zeit mit dem verheirateten Pastor, der ihr einschärfte, nicht mit anderen darüber zu reden. „Er suggerierte mir, ich sei schwierig, und nur er könne mir helfen“, schreibt sie. „Heute muss ich fast lachen, wie einfach es ist, ein junges Mädchen zu manipulieren und emotional zu erpressen. Seine Strategien wirken durchsichtig. Damals aber war er mein Ein und Alles. Ich war zerrissen, weinte oft bitterlich, aber machte alles, was er wollte.“
Auf Drängen des Pastors habe sie ein gemeinsames Kind abgetrieben
Mit 21 Jahren sei sie von dem Pastor schwanger geworden. „Ich hatte auf sein Drängen hin einen Abbruch – und glaubte ihm weiterhin jedes Wort.“ Erst nach mehreren Jahren und mit Unterstützung ihrer neuen Mitbewohnerinnen gelang es ihr, sich endgültig von Deneke zu trennen. „Er hat es immer als Liebesbeziehung bezeichnet und so dachte auch ich lange, es sei eben eine tragische Liebesgeschichte“, so Sörensen in ihrer Videonachricht am Montag.
Äußerte sie doch ihre Zweifel, habe er sie unter Druck gesetzt, sagte, er würde seine Stelle verlieren, wenn alles bekannt werde. „Das war eine große Last für mich, er war ja wie Gott, Vater und wichtigster Lehrer in einer Person für mich.“ Es dauerte Jahre, bis die junge Frau erkannte, dass der 30 Jahre ältere Mann sie für seine Zwecke missbraucht hatte.
Missbrauchsopfer: "Täter suchen sich gezielt Opfer aus"
Immer wieder frage sie sich, wie das alles möglich war, schreibt Sörensen in der „Zeit“. Heute wisse sie, dass sie keine Schuld trage. „Täter suchen sich gezielt Opfer aus, die emotional bedürftig und ungeschützt sind. Sie weichen systematisch die Grenzen auf und verwickeln ihre Opfer. Sie nutzen das Bedürfnis nach Bindung, das wir alle in uns tragen. Wenn man dazu bedenkt, welche Position ein Pastor innehat und wie respektiert er gerade auf dem Dorf damals noch war – der Täter hatte leichtes Spiel mit mir.“
Heute setzt sie sich dafür ein, dass Betroffene möglichst schnell Unterstützung erhalten und das Netz der Anlaufstellen erweitert wird. „Es gab schon damals viele Leute, die dabei waren, die Übergriffe beobachtet und darüber geredet haben“, sagt sie. „Aber auch ihnen war nicht bewusst, dass es Missbrauch war. Ich galt eher als jugendliche Geliebte des Pastors.“ 2016 erhielt sie eine Entschädigungsleistung in Höhe von 35.000 Euro. Doch damit war die Aufarbeitung für sie noch lange nicht erledigt, so schrieb sie Hunderte von E-Mails an Kirchenvertreter.
Deneke war bis zu seine Pensionierung Pastor in Tostedt
Nach Gesprächen mit den Pastorinnen der Kirchengemeinde Rosengarten, zu der die Nenndorfer Kirche mittlerweile gehört, wurde unter anderem ein Gemeindebrief geändert. Darin war 2013 ein Nachruf auf Pastor Deneke erschienen. Die archivierte Ausgabe wurde ergänzt: „Wie sich durch glaubhafte Schilderung (…) herausgestellt hat, hat Herr Deneke in seiner Amtszeit in Nenndorf fortgesetzt Mädchen ab 14 Jahren in ihren Grenzen verletzt und durch sexualisierte Gewalt lebenslang traumatisiert.“ Nach seiner Zeit in Nenndorf hatte Jörg Deneke dann von 1997 bis zu seiner Pensionierung 2004 eine Pastorenstelle in Tostedt.
Die Energie, mit der Katarina Sörensen den Aufarbeitungsweg immer weitergehe, brächten viele andere Betroffene nicht auf, sagt Claudia Chodzinski. Die freiberufliche Fachberaterin für Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, unterstützt Sörensen seit fünf Jahren. „Sie hat über viele Jahre immer wieder nachgefragt, angeschoben, gebeten oder selbst organisiert. Das ist für viele Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, nicht machbar.“
Anlaufstellen für Betroffene von sexuellem Missbrauch
Ein Großteil der Betroffenen melde sich nie, umso wichtiger seien Anlaufstellen, die unbürokratisch und niedrigschwellig Unterstützung bieten. Dies sei auch entscheidend, damit sich die Betroffenen besser untereinander vernetzen können, sagt Sörensen. Diese Gespräche hätten ihr bei der Aufarbeitung dessen, was ihr angetan worden ist, am meisten geholfen.
Die Zentrale Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie ist unter der Telefonnummer 0800/5040112 zu erreichen. Für die Landeskirche Hannovers beantwortet Pastorin Hella Mahler unter der Telefonnummer 0511/1241-650 Fragen, informiert über Abläufe im Krisen- und Verdachtsfall und stellt interne wie externe Hilfen vor. Sie unterstützt auch im Hinblick auf eine materielle Entschädigung. Weitere Ansprechpartnerinnen sind Cindy Dagott für Prävention (Telefonnummer 0511/1241-726) und Bettina Rehbein für Fortbildung (Telefonnummer 0511/1241-299).