Bad Oldesloe. Psychische Erkrankungen sorgen für Überforderung im Alltag. Zahlen minderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge rückläufig.

Der Säugling war noch kein halbes Jahr alt, als die Mutter ihn mit Fieber in die Ambulanz brachte, erinnert sich Sabine Schmidt, Fachdienstleiterin Soziale Dienste beim Kreis Stormarn, an einen Fall von Kindeswohlgefährdung, bei dem sie handeln musste. „Dort stellten die Ärzte unter anderem einen alten Beinbruch fest. Eine Computertomographie und Ultraschalluntersuchung des Kopfes zeigten, dass das Baby zahlreiche Hämatome als Hinweise auf ein Schütteltrauma hatte. Die Klinik informierte uns.“ Einer von 121 Stormarner Fällen, in denen 2019 der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) informiert wurde, weil das Wohl eines Kindes in Gefahr war.

Bei Jugendlichen kämen vor allem Pubertätskonflikte zum Tragen

Mitarbeiter des Jugendamtes nehmen diese Kinder dann vorübergehend in Obhut. Für ältere Jungen und Mädchen bedeutet das, dass sie in einer Einrichtung wie dem Kinder- und Jugendhaus St. Josef in Bad Oldesloe unterkommen, bis die häusliche Situation eine Rückkehr erlaubt. Säuglinge hingegen kommen in eine der acht Pflegefamilien, die kreisweit Bereitschaftspflegeplätze vorhalten. In der Regel blieben sie dort drei Monate, bis sie entweder zur Mutter zurückkehrten oder bei anhaltender Gefährdung dauerhaft in eine Pflegefamilie kämen, so Schmidt, die gern mehr Bereitschaftspflegefamilien zur Verfügung hätte. 2019 gab es in Stormarn sechs Fälle von Kindern, die bei der Inobhutnahme jünger als ein Jahr waren.

Doch den größten Anteil unter den Inobhutnahmen im Kreis machten 2019 Teenager im Alter zwischen 14 und 16 Jahren aus. Während bei jüngeren Kindern eine unmittelbare oder drohende Gefährdung des physischen oder psychischen Wohls der Grund für die Herausnahme aus der Familie sei, kämen bei Jugendlichen vor allem Pubertätskonflikte zum Tragen. „Bei diesen Konflikten innerhalb des Familiensystems geht es häufig um Regeln und Grenzen“, sagt Ute Jünemann, verantwortlich für Inobhutnahmen im St. Josef. „Am häufigsten mussten wir uns 2019 um 15-Jährige kümmern. Die Jugendlichen melden sich immer öfter selbst und bitten um Hilfe.“

Im Jugendhaus St. Josef gibt es zwölf Wohngruppen

Es seien längst nicht immer Gewalterfahrungen, die ein vorübergehendes Verlassen der Familie nötig machten. Schulabsentismus, Konflikte mit Stiefeltern, Drogen- oder PC-Sucht, Vernachlässigung, fehlende Aufsichtspflicht oder auch Gewalt, die Kinder gegenüber ihren Eltern ausübten, seien bei Heranwachsenden ebenfalls Gründe für den temporären Umzug in eine der zwölf Wohngruppen des St. Josef.

„Die Überforderung der Eltern nimmt zu“, sagt Sabine Schmidt. „Wir verzeichnen bereits bei Kindern im Grundschulalter steigende Zahlen in den ambulanten Hilfen. Die Zahl der Inobhutnahmen ist gleichbleibend relativ hoch im Kreis.“ Der Druck auf junge Familien steige zunehmend, stellen die studierte Sozialpädagogin und ihre 65 Mitarbeiter fest. „Die Familien haben wenig Ressourcen. Psychische Erkrankungen von Eltern und Kindern erschweren immer häufiger den Familienalltag. Das ist schon eine beängstigende Entwicklung.“ Psychische Störungen bei Kindern würden bereits früh einsetzen. „Das Normale wird zur Seltenheit“, sagt Schmidt. Für ihre Arbeit bedeutet das neue Anforderungen: Der ASD benötige inzwischen andere Ressourcen, die Familien hätten einen Mehrbedarf an Betreuung. „Wir kooperieren mehr mit örtlichen Kinder- und Jugendpsychiatrien als je zuvor.“

Kontakt zu den Eltern hänge von Art der Kindeswohlgefährdung ab

In den wenigsten Fällen geschehe eine Inobhutnahme aus dem Augenblick heraus, viele Fälle seien der Behörde schon vorher bekannt. Bei den Familien gebe es daher wenig Widerstand, wenn die ASD-Mitarbeiter den Nachwuchs zu Hause abholen würden. „Sie wirken eher erleichtert, nach dem Motto: Endlich nimmt uns als Eltern jemand die Entscheidung ab“, berichtet Schmidt.

Der anschließende Kontakt zu den Eltern hänge von der Art der Kindeswohlgefährdung ab. Das Umgangsrecht bestehe weiter, aber bei Fällen von Gewalt oder sexuellem Missbrauch würden die Mitarbeiter im Kinderhaus jede Kontaktaufnahme beobachten und Telefonate begleiten, so Jünemann. Alles Weitere regele das Familiengericht.

„Wir halten niemanden gegen seinen Willen fest“

Für den 16-jährigen Erik greifen diese Regelungen nicht mehr. Als er sich vor Kurzem bei einer Polizeiwache im Kreis meldete, um in Obhut zu kommen, habe er sich nicht mal mehr an den Nachnamen seiner Mutter erinnern können, sagt Schmidt, die seit 2014 für Inobhutnahmen im Kreis als Fachdienstleitung zuständig ist. Der Junge habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zur Mutter und pendele zwischen verschiedenen Betreuungseinrichtungen in Stormarn und angrenzenden Kreisen. „Er gehört zu einer Handvoll sogenannter Trebegänger im Kreis, die kein Zuhause und keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern haben.“

Dass er sich freiwillig in Obhut begibt, sichert dem Jugendlichen indes kein dauerhaftes Heim. „Eine Inobhutnahme bedeutet nicht, dass ich bleiben darf“, erklärt Schmidt. „Sie dient nur als vorübergehende Lösung.“ In Eriks Fall käme erschwerend hinzu, dass er es immer nur ein paar Monate in einer betreuten Jugendwohngruppe aushalte und wieder von dannen ziehe. „Wir sind hier kein Gefängnis“, sagt Ute Jünemann, „wir halten niemanden gegen seinen Willen fest.“

Längste Heimunterbringung dauert bereits 13 Jahre

Mit 16 Jahren ist Erik nicht mehr schulpflichtig. Wie geht es für einen solchen Trebegänger weiter? „Eine Inobhutnahme ist ein Krisenzustand“, sagt Birgit Brauer, Leiterin des St. Josef. „Die Trebegänger kennen weder ein stabiles Elternhaus noch Strukturen. Bei ihnen ist die Obdachlosigkeit eine Form der Kindeswohlgefährdung und erlaubt eine vorübergehende Aufnahme. Aber das geht nur bis zum 18. Lebensjahr. Danach bleibt ihnen nur noch die Hilfe für junge Volljährige.“

Mehr als die Hälfte der Inobhutnahmen könne der Allgemeine Soziale Dienst in die Familien zurückführen. Das sei auch das erklärte Ziel jeder Inobhutnahme, so Schmidt. Ein gutes Drittel jedoch bleibe dauerhaft in Fremdbetreuung. Jeder zweite Jugendliche kommt in Nachbarkreisen wie Norderstedt, Segeberg oder Herzogtum-Lauenburg unter, manche sogar in anderen Bundesländern. „Das ist manchmal nötig, um sie aus einem schädlichen sozialen Umfeld fernzuhalten.“ Inobhutnahmen könnten sehr lange dauern, wenn Gerichtsverfahren anhängig seien, sagt Birgit Brauer, die in Stormarns größter Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung 127 stationäre Plätze vorhält. „Unsere längste Heimunterbringung dauert bereits 13 Jahre. Der Junge kam als Kita-Kind zu uns.“

So mancher Ankömmling benötige eine Langzeittherapie

2019 waren unter den Inobhutnahmen 17 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, deutlich weniger als zu Zeiten der Flüchtlingskrise 2015/16. Mit ihnen seien Themen wie Mord, Totschlag und traumatische Fluchterlebnisse in die Betreuung gekommen, sagt Ute Jünemann, die seit elf Jahren im St. Josef arbeitet. „Die Geschichten der Flüchtlinge sind für mich das Härteste, was ich in meinem Beruf je zu hören bekam“.

Mancher Ankömmling benötige eine Langzeittherapie, um das Erlebte zu verarbeiten. Im Heimalltag zeige sich, wie schwierig es für die Jugendlichen sei, zu akzeptieren, dass sie hier wie Heranwachsende behandelt werden und zum Beispiel festen Schlafenszeiten folgen müssten, sich für ihre Familien in der Heimat hingegen voll verantwortlich und entsprechend erwachsen fühlten.

Sechs Wochen bleiben die jungen Menschen, die auch aus Kriegsregionen kommen, mindestens in dem großen roten Backsteingebäude in Bad Oldesloe, manchmal auch länger. Wenn sie die Einrichtung verlassen, blieben die Mitarbeiter des St. Josef für viele eine Art Ersatzfamilie, so Jünemann. „Uns besuchen noch regelmäßig 20- bis 21-Jährige und berichten, wie es ihnen geht.“