Ahrensburg. Erzieherin steht wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht. Auf Kita-Ausflug war der Zweijährige in einem Hoisdorfer Badesee ertrunken.
Tiefe Augenringe lassen erahnen, welche Qualen Sandra T. (Namen geändert) seit dem tragischen Unglück am 18. Juli 2016 durchlebt. Auf einer Ferienfreizeit einer Hamburger Kindertagesstätte war der zwei Jahre alte Mattis in einem Badesee auf dem Gelände des Hoisdorfer Jugendheims Lichtensee ertrunken. Sandra T. war eine von sieben Betreuern. Es sei der schrecklichste Tag ihres Lebens gewesen, sie könne sich bis heute nicht erklären, wie das Unglück geschehen konnte, beteuert die Erzieherin vor dem Amtsgericht Ahrensburg. Dort muss sich die 33-Jährige nun wegen fahrlässiger Tötung verantworten. Es soll klären, ob T. ihre Sorgfaltspflicht verletzt hat oder es sich um einen unglücklichen Unfall handelt.
Die hochschwangere Frau sitzt regungslos im Gerichtssaal, ihre Miene ist versteinert. Selten blickt sie von der Anklagebank auf, wirft ihrem Lebensgefährten im Publikum Blicke zu. Der ist bemüht, sie mit Gesten zu beruhigen. Durch Fahrlässigkeit und Unterlassen habe Sandra T. Mattis Tod verursacht, heißt es in der Anklageschrift. Ihr sei bewusst gewesen, dass der Teich nicht gesichert und somit eine potenzielle Gefahrenquelle war. Bei Einhaltung der Sorgfaltspflicht hätte T. das Herannahen des Jungen an das Gewässer erkennen und Rettungsmaßnahmen vornehmen können, so der Staatsanwalt.
Angeklagte fühlt sich ungerecht behandelt
Die 33-Jährige äußert sich nicht persönlich zu den Vorwürfen. Ihre Verteidigerin verliest eine Stellungnahme. „Die Zeitspanne, in der ich mich abgewendet hatte, dauerte nur Sekunden, ich wollte einen Kescher einsammeln, mit dem die Kinder gespielt hatten“, schreibt sie darin. Sie fühle sich ungerecht behandelt, weil die Staatsanwaltschaft ihr die alleinige Verantwortung für das Unglück zuteilt. „Es hat keine Einteilung zwischen uns Erziehern gegeben, die besagte, dass ich allein die Aufsicht für Mattis übernehme.“ Den Vorwurf der fahrlässigen Tötung wies sie zurück.
Die schriftliche Einlassung wird ihre einzige Wortmeldung am ersten Verhandlungstag bleiben, doch wirft sie eine Reihe von Fragen auf, die den Prozess im weiteren Verlauf verkomplizieren. War T. die Einzige, die den Tod des Jungen hätte verhindern können oder trifft einige ihrer Kollegen eine Mitschuld? Jan-Philipp C. war als Aushilfskraft bei dem Ausflug dabei. Vor Gericht schildert er den Verlauf des Nachmittags, der als Auftakt einer unbeschwerten mehrtägigen Fahrt ins Grüne begann.
Kita machte Ausflug nach Hoisdorf
Gegen Mittag erreicht die Gruppe bestehend aus 19 Kindern zwischen einem und sieben Jahren das Jugendheim. „Wie vorher abgesprochen, haben wir Erzieher uns aufgeteilt, jeder war für eine Aktivität oder einen Bereich des Geländes zuständig“, schildert C. Er selbst habe den Spielplatz bewacht, Sandra T. den Uferbereich. Auch das Plantschen am kleinen Strand stand auf dem Programm. „Wir haben den Kindern bei einer Runde über das Gelände genau erklärt, wo Gefahrenstellen sind, was sie tun dürfen und was nicht“, sagt C. Ein Bereich sei mit Hütchen markiert worden, den die Kinder ohne Erzieher nicht verlassen durften. Mattis habe die meiste Zeit auf dem Fußballfeld verbracht, „weil er noch nicht mit den größeren Jungs mitspielen konnte, hat er von uns einen eigenen kleinen Ball bekommen“, so der Zeuge. Wenige Sekunden bevor eine Kollegin sie nach dem Jungen gefragte habe, habe sie ihn noch bei der Schaukel gesehen, heißt es in der Erklärung der Angeklagten. Sie habe sofort allen Kollegen Bescheid gegeben und nach kurzer erfolgloser Suche die Polizei alarmiert.
Um 17.39 Uhr erreicht die Beamten der Notruf. Wenig später rücken auch die Feuerwehr und die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) mit einem Boot an, die Suchhundestaffel des Kreises eilt ebenfalls herbei. Zwei Stunden später herrscht dann traurige Gewissheit: Die Leiche des Jungen wird aus dem flachen Wasser geborgen, Reanimierungsversuche des Notarztes scheitern. Die Erzieher stehen unter Schock, ein Kriseninterventionsteam betreut sie und die herbeieilenden Eltern. Laut Zeugen war der Übergang von Rasen zu Ufer schwer erkennbar, weil grünes Entenflott den See bedeckt
Vater sitzt als Nebenkläger im Saal
Der Vater des Jungen, der als Nebenkläger im Saal sitzt, gibt sich gefasst. Zwei Zeuginnen brechen hingegen während ihrer Aussagen in Tränen aus. Eine von ihnen war Auszubildende in der Kita, befand sich zum Unglückszeitpunkt im ersten Lehrjahr. Nach dem Vorfall hat die heute 25-Jährige ihre Ausbildung abgebrochen.
Während der Vernehmung der Betreuer erhärtet sich der Verdacht, dass mindestens zwei weitere Kollegen eine Mitschuld an Mattis Tod tragen könnten. In Bezug auf die Aussagen der Zeugen wirft die Verteidigung ein, dass jene Kollegen von ihren Zuständigkeitsbereichen das Ufer ebenfalls im Blick gehabt hätten. Nach kurzer Beratung stimmt auch die Vorsitzende Richterin zu, dass ein Anfangsverdacht gegen die Zeugen begründet sei. Sie erhebt Vorwürfe gegen die Vernehmungsbeamten der Polizei, die die Beteiligten des Unglücks unmittelbar nach dem Vorfall verhört hatten: „Aus den Protokollen hätte sichtbar werden müssen, dass eine Mitschuld zweier der Vernommenen in Frage kommt.“ Weil diese vor der polizeilichen Aussage nur als Zeugen, nicht aber als Verdächtige über ihre Rechte belehrt worden seien, sei ihre Aussage möglicherweise nicht verwertbar. Ob ein Anfangsverdacht der Mitschuld besteht, ist entscheidend, weil den Zeugen dann ein vollumfängliches Aussageverweigerungsrecht zusteht.
Vernehmung vorerst nicht möglich
Letztendlich können beide nicht vor Gericht vernommen werden. Während der eine von seinem Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen, Gebrauch macht, ordnet das Gericht für die andere Zeugin die Beistellung eines Rechtsanwalts an und lädt sie zum nächsten Verhandlungstag erneut.
Das Amtsgericht Ahrensburg hat für das Verfahren drei Verhandlungstage anberaumt. Am kommenden Montag, 24. Juni, soll unter anderem der Vernehmungsbeamte der Polizei gehört werden, am 8. Juli wird der Obduktionsarzt seinen Bericht vorstellen. Am selben Tag soll auch das Urteil fallen. Das Strafgesetzbuch sieht bei fahrlässiger Tötung eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren vor. Ursprünglich wollte die Staatsanwaltschaft von einer Anklage gegen Sandra T. absehen, die Ermittlungen hätten zur Bewertung als tragischer Unfall .geführt, hieß es im Juli 2018 auf Abendblatt-Nachfrage. Die Ermittlungen waren nach Auskunft der Staatsanwaltschaft daraufhin eingestellt, aber nach einer Beschwerde der Eltern des gestorbenen Kindes wieder aufgenommen worden. „Nach erneuter Bewertung der Sach- und Rechtslage wurde im August 2018 ein Strafbefehl gegen die Angeklagte beantragt“, sagt Oberstaatsanwalt Christian Braunwarth. Grund: Sie habe entgegen der ihr von Berufs wegen Bekannten Unberechenbarkeit kleiner Kinder den Uferbereich und die Wiese nicht ständig im Blick gehabt, wodurch das Kind unbemerkt in den Teich fallen und ertrinken konnte. „,Gegen den Strafbefehl hat die Angeklagte Einspruch erhoben“, so Braunwarth. „Über diesen Einspruch wird derzeit durch das Amtsgericht Ahrensburg verhandelt.“