Bargteheide. Henry-Oliver Jakobs wurde als Kind vom Kiez zum Kriminellen und saß später 19 Jahre in “Santa Fu“. Nun hilft er Jugendlichen.

Es gibt diese Augenblicke, da wirkt Henry-Oliver Jakobs wie ein kleiner Junge. Wenn es kühl wird auf der Parkbank am Bargteheider Schulzentrum zum Beispiel, er die Finger unter den Oberschenkeln vergräbt, der Oberkörper nach vorn fällt und der Blick in die Ferne schweift. Dann sagt er Sätze wie diesen: „Das kann man nicht wiedergutmachen.“

Jakobs hat gestohlen, gehehlt und gelogen. Mit acht Jahren hat er angefangen. „Aus Langeweile“, sagt er. Eine Kindheit auf dem Hamburger Kiez. Erwischt wird er nicht, deshalb macht er weiter. Fäuste fliegen, schon auf dem Schulhof. Dann besorgt er sich das erste Messer. Es folgen Baseballschläger und schließlich eine Schusswaffe. Im August 1995 schießt er, 25 Jahre alt, auf zwei Männer. Einer von ihnen stirbt, der andere sitzt seitdem im Rollstuhl.

Es geht, worum es in seinem Leben häufig geht: um Geld. Jakobs bietet zwei Bekannten Briefmarken zum Kauf an, die er nicht besitzt. Zur Übergabe am Bismarckdenkmal haben die beiden Käufer 100.000 Mark dabei und Jakobs seine Waffe. Ein absurder Gedanke. 100.000 Mark für zwei Menschenleben.

Kurze Zeit später klicken die Handschellen

Es ist der schaurige Höhepunkt von Henry-Oliver Jakobs Irrfahrt durch die Hamburger Unterwelt – und es ist der Ort, an dem sie ihr abruptes Ende findet. Kurze Zeit später klicken die Handschellen. Jakobs wird wegen Mordes, versuchten Mordes, Raubes und Vertuschung einer Straftat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt und in der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel weggesperrt. 19 Jahre bleibt er in „Santa Fu“.

Seit 2014 ist er wieder auf freiem Fuß, auf Bewährung. Jetzt sitzt Jakobs, der in Elmenhorst lebt, auf einer Parkbank in Bargteheide. Er ist ein freier Mann, der seine Strafe abgebüßt hat, seine Schuld aber nie vergessen kann. Der diesen einen Satz sagt, der hängen bleibt: „Das kann man nicht wiedergutmachen.“

Jakobs führt ein Doppelleben

Wie konnte es soweit kommen? Wie wurde der Mann, der einem die Hand schüttelt und freundlich das „Du“ anbietet, zum Mörder? Wie schaffte er zwei Jahrzehnte später den Sprung zurück in die Gesellschaft? Jakobs kommt aus einer Kiez-Familie. Opa Harry führt seit den 1960ern in der Herbertstraße den Hafenbasar. Einen Laden mit Waren, die es nur hier zu kaufen gibt: Holzmasken, ausgestopfte Tiere oder Schrumpfköpfe. Später zieht der Basar in die Hafencity um, wird Museum. Am Tresen lernt Jakobs das Geschäft und sein Gebaren kennen, viel familiäre Wärme erfährt er nicht. Nicht immer läuft alles sauber. Kriminalität ist Alltag auf dem Kiez. In der Nachbarschaft leben Zuhälter und Prostituierte. „Das war nicht mein Ding“, sagt er, „zu viel Aufmerksamkeit.“ Von ihnen hält Jakobs sich fern, von allem anderen nicht.

Jakobs führt ein Doppelleben. Für die einen ist er der liebe Junge von nebenan, macht die mittlere Reife, eine Ausbildung als Bürokaufmann in einem Auktionshaus. Für die anderen ist er jemand, vor dem man sich in Acht nimmt. „Ich hatte keinerlei Empathie, habe meinen Willen mit Gewalt durchgesetzt“, sagt Jakobs. Er habe gelogen und betrogen, auch die eigene Familie.

Prävention und Abschreckung: er hilft heute in Schulen

Der Arbeitslohn wandert in die eine Jackentasche, in die andere kommen Scheine aus illegalen Geschäften. Viel Geld, das er mit vollen Händen ausgibt. „Langfristig gesehen ist das ein absolutes Minusgeschäft“, sagt Jakobs, der gelernte Kaufmann. „Unterm Strich stehen Friedhof oder Knast. Das sind die beiden Konsequenzen.“

Seine Erfahrungen teilt der 48-Jährige heute mit Schülern in der Region, auch in Bargteheide, Bad Oldesloe oder Ahrensburg war er schon. Sie will er aufklären, ihnen zeigen, dass Kriminalität einsam macht und ein Gefängnisaufenthalt mürbe. „Gewalt erzeugt Gegengewalt“, sagt Jakobs. Was erstmal ziemlich abgedroschen klingt, bekommt ein anderes Gewicht, wenn man bedenkt, wie weit sich die Gewaltspirale in Jakobs’ Leben gedreht hat.

Mit der Präventionsarbeit hat Jakobs bereits in Haft angefangen, hier seine Berufung gefunden. 2016 gründete er dann den Verein Gefangene helfen, dessen Geschäftsführer er ist. Ein weiterer Ex-Straftäter ist dort engagiert sowie viele ehrenamtliche Helfer und Sozialpädagogen. „Ich räume vor allem mit den Klischees auf“, sagt Jakobs.

Immer wieder werde er beispielsweise nach der Seife auf dem Boden in der Nasszelle gefragt. Dann herrscht im Klassenzimmer gemeinhin noch lockere Stimmung. „Nicht jeder im Gefängnis ist schwul“, sagt Jakobs dann trocken. Entspannt geht es auch noch zu, wenn die Frage nach rivalisierenden Gruppen kommt. „Es gibt nur eine Gang“, sagt Jakobs dann, „und das sind die Wärter.“

Leben im Knast ist fremdbestimmt

Jetzt wird es ernst, Jakobs’ Stimme fest: „Das Schlimmste im Knast ist, dass du nichts bestimmst. Was du isst, wann du isst, wo du isst, entscheiden sie. Was du arbeitest, wann du arbeitest, wo du arbeitest auch. Morgens wirst du nicht geweckt, sondern es wird überprüft, ob du noch lebst.“

Dann folgt das Rollenspiel. Das Klassenzimmer wird zum Knast, Jakobs zum Justizvollzugsbeamten. Er erkenne, wer einen Hang zur Kriminalität habe. Lacht so jemand, ist das ein Verstoß, lacht er erneut, ein zweiter. Beim dritten gibt es Konsequenzen. „Willst du, dass deine Mutter dich nur noch einmal im Monat sieht?“ Das wirkt.

Manchmal gebe es auch Sorgen unter Schülern oder Eltern. Ein Mörder am Lehrerpult? Jakobs sagt dann: „Glaubt ihr, ich komm’ einfach vorbei? Glaubt ihr, eure Lehrer haben sich nicht abgesichert? Und euer Schulleiter?“

Der 48-Jährige schüttelt den Kopf. Im Gefängnis hat er nicht nur Maler und Lackierer gelernt – neben Vereinsarbeit sein heutiger Brotberuf –, sondern auch viele Jahre Therapie gemacht. 83 Seiten umfasst das Gutachten, das für seine Freilassung gesorgt hat.

In Elmenhorst hat er Ruhe gefunden und eine neue Partnerin. Jakobs lebt bescheiden. Zum Urlaub fahren sie nach Dänemark. Essen gefalle ihm, sagt er, schaut auf seinen Bauch und grinst. Große Ziele? Jakobs schweigt. Er hätte, sagt er, gern mehr Zeit für den Verein. „Wiedergutmachen“, sagt er dann noch einmal, „kann ich die Tat nicht. Ich kann aber versuchen, dass junge Menschen einen anderen Weg wählen.“

Der Verein Gefangene helfen ist auf Spenden angewiesen. Infos und Kontakt: www.gefangene-helfen.de, Tel. 04532/ 503 74 14.