Hamburg. 2016 erschießt ein Mann das Kind von Michael und Bettina Thiessenhusen. Nach zwei Prozessen wird der Fall erneut aufgerollt.

"Hab einen schönen Tag und lass dich nicht ärgern, Svealein!“ Bettina Thiessenhusen (59) erinnert sich gut an ihre Worte am Morgen des 12. August 2016. Es waren die letzten, die sie ihrer Tochter sagen konnte. Ein paar Stunden später ist die 28-Jährige tot. Erschossen von ihrem Ex-Freund, der sie und ihre Eltern zuvor monatelang drangsalierte und bedrohte. Es klingt nach dem grausamen Ende einer schrecklichen Geschichte. Doch für die Eltern der ermordeten Svea hört der Albtraum nicht auf.

Sven S., der mutmaßliche Täter, sitzt zwar hinter Gittern, doch rechtskräftig verurteilt ist er noch immer nicht. Die erste Verhandlung platzte. Nach dem zweiten Prozess im Herbst 2017 legte der Verteidiger Revision ein. Jetzt muss das Verfahren wegen eines Formfehlers ein drittes Mal aufgerollt werden. Für Bettina und Michael Thiessenhusen heißt das: Sie müssen sich schon wieder mit dem Tod ihrer Tochter auseinandersetzen. Das Geschehen noch einmal durchleben. Und weiter auf ein gerechtes Urteil hoffen.

Bisher gab das Paar, das durch eine Bluttat sein einziges Kind verlor, keine Interviews. Doch jetzt sind es Mutter und Vater, die die Öffentlichkeit suchen und sich ans Abendblatt gewandt haben. „Wir wollen die Entwicklung aus Sicht der Opfer kommentieren“, sagt Michael Thiessenhusen. Seit 26 Monaten sind die Eltern als Nebenkläger in den Fall eingebunden und „lernen das Rechtssystem von einer ungewöhnlichen Seite kennen“. Das Ehepaar will mit seinen Schilderungen weder Polizei noch Gericht an den Pranger stellen. Und doch: Von beiden Institutionen fühlen sie sich sehr im Stich gelassen. Das, was sie erleben, solle niemand durchmachen müssen. Sie sagen: „Wir müssen die gesamte Geschichte erzählen, damit klar wird, warum wir uns an die Öffentlichkeit wenden.“

Enorme Anziehungskraft

Die Geschichte beginnt mit der enormen Anziehungskraft, die Sven S. auf Svea gehabt haben muss. Die junge, lebensfrohe Frau aus gutem Hause und der damals wegen Körperverletzung und Raubes bereits mehrfach vorbestrafte Gelegenheitsjobber lernten sich 2011 in einer Disco kennen. Freundeskreis und Eltern konnten Sveas Zuneigung zu dem acht Jahre älteren, offensichtlich gewaltbereiten Mann aus Rahlstedt nur schwer nachvollziehen. „Doch unserer Tochter zuliebe haben wir versucht, ihn zu akzeptieren“, sagt Bettina Thiessenhusen.

Sie luden den muskelbepackten Bodybuilder in ihr Zuhause im beschaulichen Tremsbüttel ein. Versuchten, eine Beziehung zu ihm aufzubauen. „Er wirkte enorm manipulativ, hatte einen unglaublich starken Einfluss auf Svea“, so die Mutter weiter. Den Eltern wird klar: Lehnen sie den Freund ab, verlieren sie den Kontakt zur Tochter. Das geschah dennoch immer häufiger. „Manchmal meldete sie sich wochenlang nicht“, sagt der Vater. Heute weiß er, dass Sven S. es ihr strengstens verbot.

Die damals Mitte 20 Jahre alte Svea, Pferdenärrin und leidenschaftliche Springreiterin, arbeitete zu dieser Zeit auf dem Erdbeerhof von Enno Glantz in Delingsdorf. „Dort haben wir uns manchmal heimlich getroffen“, sagt Bettina Thiessenhusen. Mehr und mehr erkennt schließlich auch Svea, dass hinter ihrer scheinbar so großen Liebe ein Mann steckt, dessen krimineller Energie sie nicht gewachsen ist. „Anfangs dachte sie, sie könne ihn ändern, ihn zu einem besseren Menschen machen“, so Michael Thiessenhusen. Der Glaube an das Gute habe schon immer einen Großteil ihrer Persönlichkeit ausgemacht. Als Sven S. jedoch erneut straffällig wird, zieht die 28-Jährige Konsequenzen: Im Winter 2015 beendet sie die Beziehung, zieht vorübergehend zurück zu den Eltern nach Tremsbüttel.

Svea erwirkt ein Kontaktverbot

Vor dem Amtsgericht Ahrensburg erwirkt sie sogar ein Kontaktverbot. Für den selbstherrlichen S. ein Schlag ins Gesicht. Er schreibt ungezählte Nachrichten, in denen er Svea zur Rückkehr auffordert. Aus den Aufforderungen werden brutale Drohungen. Auch gegen die Eltern. Michael Thiessenhusen erzählt von nächtlichen, hasserfüllten Anrufen. „Ich habe ein Handyvideo bekommen, in dem Menschen Köpfe abgehackt werden“, sagt Bettina Thiessenhusen. „Er drohte, unsere Pferde genauso abzuschlachten. Und dann uns.“

Svea liebte Pferde, das Leben und die Menschen.
Svea liebte Pferde, das Leben und die Menschen. © Mona Frederik

Tatsächlich gab es kurze Zeit später eine blutige Attacke auf das Pferd der Mutter. „Spätestens ab diesem Zeitpunkt hätten wir uns mehr Schutz von der Polizei gewünscht“, sagt sie. Thiessenhusens zeigten S. mehrfach an. Mehr als eine sogenannte Gefährderansprache habe jedoch nie stattgefunden. „Ein Polizeibeamter gab uns den Rat, wir sollten für ein paar Nächte ins Hotel ziehen, wenn wir Angst haben“, sagt Michael Thiessenhusen. Noch heute kann er diese Aussage nicht fassen.

Ein anderer Beamter habe seine Tochter gebeten, den Kontakt zu Sven S. nicht völlig abreißen zu lassen. „Sie wollten ihre Verbindung zu ihm nutzen, um weitere Beweise gegen ihn zu sammeln.“ Svea hielt Kontakt – aus purer Angst, dass ihr Ex-Freund seine Drohungen wahr machen würde. „Jedes Mal, wenn er sich bei ihr meldete, war sie danach völlig niedergeschlagen. So hatte ich sie noch nie erlebt“, erinnert sich ihr Vater Michael. „Papa, wann sperren die ihn endlich weg?“, fragte sie in solchen Momenten verzweifelt.

Die junge Frau hat keine Chance

So auch am Abend des 11. August 2016. Sven S. hatte sie kurz zuvor per SMS aufgefordert, für ihn einzukaufen und ihm die Lebensmittel am nächsten Tag in die Bargteheider Wohnung zu bringen. Er selbst sei noch eine Weile im Urlaub und wünsche sich einen vollen Kühlschrank, wenn er zurückkomme. „Davon hat sie uns nichts erzählt“, sagt Bettina Thiessenhusen. Auch das sei Sveas Art gewesen: Sie wollte niemanden beunruhigen.

Allein aus diesem Grund, vermuten die Eltern, sei Svea am nächsten Tag nach Bargteheide gefahren. Bettina Thiessenhusen: „Am nächsten Wochenende war bei ihrem Arbeitgeber ein großes Hoffest geplant. Wahrscheinlich hatte sie Angst, S. könne die Veranstaltung gefährden, falls sie nicht tut, was er will.“ Svea traute ihm Schlimmes zu. Doch nicht das, was dann geschah. Nachdem sie die Tür zu der vermeintlich leeren Wohnung aufgeschlossen hat, fällt sofort ein Schuss. Sven S. hatte ihr mit gezogener Waffe aufgelauert. Svea liegt verletzt und wehrlos am Boden, als Sven S. noch weitere zwei Male gezielt auf sie schießt. Die junge Frau hat keine Chance. Sie stirbt innerhalb weniger Minuten. Sven S. ruft bei der Polizei an und gesteht die Tat. Dann flüchtet er. Erst am nächsten Morgen kann ihn ein Sondereinsatzkommando in seinem Versteck auf einem Campingplatz festnehmen.

Das Ehepaar Thiessenhusen lebt zu diesem Zeitpunkt bereits einige Stunden mit der furchtbaren Gewissheit, sein Kind verloren zu haben. Durch jemanden, der genau dies mehr als einmal konkret angekündigt hatte. „Musste es wirklich so weit kommen?“, fragen sich die Eltern.

Jurist: „Es lag kein Haftgrund vor“

Es sei lange Zeit vor der Tat bekannt gewesen, dass der vorbestrafte Mann gewaltbereit, besitzergreifend und herrschsüchtig ist. Dass er sich in Kreisen zwielichtiger Menschen bewegt, die ihm Waffen besorgen können. Hätte die Polizei mit diesem Wissen nicht genug in der Hand gehabt, um ihn „aus dem Verkehr zu ziehen“? „Nein“, sagt Rechtsanwalt Frank-Eckhard Brand. Der Lübecker Jurist vertritt die Thiessenhusens als Nebenkläger. „Es lag kein Haftgrund vor, und somit hatte die Polizei keine Handlungsmöglichkeit.“ Man dürfe im Rechtsstaat niemanden festnehmen, nur weil er eventuell eine Straftat begehen könnte. Dennoch kann der Anwalt nachvollziehen, dass die Eltern mit dem polizeilichen Vorgehen hadern. Besonders kritisch sieht Brand die Empfehlung der Beamten an Svea, die Beziehung zum Schein aufrechtzuerhalten. „Das war kein guter Ratschlag“, sagt der Anwalt.

Sven S. hat seine schlimmste Drohung wahr gemacht. Er nahm Svea das Leben, vielen Menschen eine Freundin und den Eltern ihr Kind. „Auch wenn dieses Bild häufig strapaziert wird“, sagt Bettina Thiessenhusen. „Es fühlt sich an, als würde einem das Herz aus dem Leib gerissen.“ Die Verhandlung gegen den mutmaßlichen Mörder möchten sie trotz des ungeheuren Schmerzes intensiv miterleben. „Wir wollten den Prozess als Trauerarbeit für uns nutzen, das Geschehene begreifen und unserer Svea eine gute Vertretung sein“, sagt Michael Thiessenhusen. Psychologische Hilfe hat das Elternpaar nicht in Anspruch genommen. Sie haben einander. „Wir haben viel geredet, das hat uns beiden Kraft gegeben“, sagt er.

Auf der Suche nach der Waffe des Todesschützen durchsuchten Mordkommission und Bereitschaftspolizei einen Teich.
Auf der Suche nach der Waffe des Todesschützen durchsuchten Mordkommission und Bereitschaftspolizei einen Teich. © picture alliance

Der erste Prozess im Frühjahr 2017 platzte nach sieben Tagen. Der Grund: Sven S. geriet mit seinem Verteidiger heftig aneinander, der ließ sich daraufhin für mehrere Wochen krankschreiben. Die Folge der Unterbrechung: Die Hauptverhandlung wurde ausgesetzt. Alle bis dahin aufgenommenen Beweise und Aussagen waren hinfällig, Sven S. kam wieder in Untersuchungshaft. „Das war der erste Rückschlag“, sagt Bettina Thiessenhusen.

Monatelanger Terror

Die 59-Jährige hatte schon genug damit zu kämpfen, mit dem Mann, der sie monatelang terrorisierte und dann ihre Tochter erschoss, stundenlang in einem Raum zu sitzen. Nun stand ihr genau das schon wieder bevor. Im August 2017 begann der zweite Prozess. Alle bereits vernommenen Zeugen und Gutachter mussten erneut aussagen. Noch einmal wurde jedes grausame Detail beleuchtet. Nach 15 Verhandlungstagen dann das Urteil: Lebenslang wegen Mordes. Sven S., der sich vor Gericht nie zur Tat äußerte, den Mord in Briefen schlicht als „dämlichen Unfall“ bezeichnete, verzieht beim Urteilsspruch keine Miene. Bettina Thiessenhusen erinnert sich an den ersten Satz, den sie ihrem Mann beim Verlassen des Gerichtsgebäudes in Lübeck zuflüsterte: „Hier will ich nie wieder hin.“

Doch Sven S.s Verteidiger legt Revision ein, ficht damit das Urteil an. Der Fall wird zur formellen Prüfung an den Bundesgerichtshof weitergegeben. Der findet einen Widerspruch in zwei Protokollen – und entscheidet, dass der Prozess komplett wiederholt werden muss. Ein Schock für Sveas Eltern. Sie sagen: „Wie kann ein reiner Formfehler, der am letztlichen Urteil - so hoffen wir - gar nichts ändern wird, dazu führen, dass uns Angehörigen wieder das Herz aufgerissen werden muss?“

Zwei Jahre nach der Tat sei endlich wieder etwas wie Alltag in ihr Leben eingekehrt. Svea habe einen festen Platz in ihrer Erinnerung, sei stets präsent. Viel Sport und gute Freunde geben dem Paar Kraft und Energie. „Diese Stabilität hat nun wieder einen Bruch bekommen“, sagt Michael Thiessenhusen. Seine Frau verwendet deutlichere Worte. Sie sagt: „Wir fühlen uns vergewaltigt. Während der Täter seine Spielchen spielen darf und alle ihm gegebenen Rechte für sich ausnutzt, müssen wir leiden und hoffen, dass keine weiteren Fehler mehr passieren.“ Der Gerichtsbarkeit scheine egal zu sein, was eine erneute Prozesswiederholung bei den Hinterbliebenen auslöse.

Prozess beginnt zum dritten Mal

Laut Familienanwalt Frank-Eckhard Brand ist die Aufhebung des Urteils zwar juristisch nicht zu beanstanden, aber psychologisch schwierig. „Der Täter empfindet das als weiteren Sieg über die Opfer“, so der Jurist. Solange S. in Untersuchungshaft sitzt, gelte die Unschuldsvermutung. „Das nährt seine narzisstische Persönlichkeitsstruktur, die ihn zu dieser furchtbaren Tat überhaupt getrieben hat.“ Mit dem Gang an die Öffentlichkeit wollen Thiessenhusens bei allen zuständigen Stellen die dringende Notwendigkeit der Sorgfaltspflicht einfordern. Auch um in ähnlichen Fällen Verhandlungsverläufe wie diesen zum Schutz der Opfer zu vermeiden.

Heute beginnt der Prozess um Sveas Tod zum dritten Mal. Bettina und Michael Thiessenhusen werden wieder nach Lübeck fahren. Wieder in das Gerichtsgebäude hineingehen. Und dem Mann gegenübersitzen, der ihnen das Leben immer wieder zur Hölle macht. „Wir werden es auch diesmal schaffen“, sagt Michael Thiessenhusen mit fester Stimme. „Svea zuliebe.“